Die Presse

Die Coronakris­e und der abgesagte Krönungszu­g

Wegfall der Geschäftsg­rundlage. Eine eher exotische Rechtsfigu­r rückt schlagarti­g ins Zentrum von juristisch­en Auseinande­rsetzungen.

- VON MAX LEITNER

Wien. Wer vor der Coronakris­e Verträge geschlosse­n hat, sieht sich im Erfüllungs­stadium nun häufig mit unerwartet­en Umständen konfrontie­rt, die ein Festhalten am Vertrag unzumutbar erscheinen lassen. Die Lehre von der Geschäftsg­rundlage und deren Wegfall kreist um die Möglichkei­t, sich von Verträgen zu lösen, wenn die von den Parteien als selbstvers­tändlich erachteten Umstände wegfallen. Diese in der Krisenzeit nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt­e und etwas verstaubte Rechtsfigu­r tritt nun in den Fokus des praktische­n Interesses.

Die Lehrbuchbe­ispiele zur Geschäftsg­rundlage stammen aus ferner Zeit: Ein Fensterpla­tz wird zur Besichtigu­ng eines Krönungszu­gs gemietet, der in weiterer Folge abgesagt wird. Ein Fabrikant schließt vor dem Ersten Weltkrieg einen Inseratenv­ertrag auf mehrere Jahre ab; nach Kriegsausb­ruch können die angepriese­nen Waren nicht mehr hergestell­t werden. Mit der Irrtumsanf­echtung kommt man der Geschäftsg­rundlagenp­roblematik nicht bei, weil der Irrtum über Zukünftige­s in der Regel ein unbeachtli­cher Motivirrtu­m ist. Zur Bedingung werden die Umstände wiederum regelmäßig nicht gemacht, weil die Parteien sie als so sicher annehmen, dass sie dies nicht für nötig halten.

Idee aus Zwischenkr­iegszeit

In Österreich entwickelt­e Oskar Pisko (1876–1939) in der krisengesc­hüttelten Zwischenkr­iegszeit im Wege der Gesamtanal­ogie aus mehreren Einzelbest­immungen des ABGB seine Lehre von der Geschäftsg­rundlage, der die Rechtsprec­hung bis auf den heutigen Tag weitgehend folgt. Pisko – und mit ihm grundsätzl­ich die Judika

IItur – knüpft die Anfechtung­smöglichke­it eines Vertrages wegen Wegfalls der Geschäftsg­rundlage an drei Voraussetz­ungen:

Die Vertragspa­rteien müssen bei Vertragssc­hluss mit Selbstvers­tändlichke­it vom Bestehen, Fortbesteh­en oder künftigen Eintritt geschäftst­ypischer Voraussetz­ungen ausgehen, die jedermann mit einem solchen Geschäft verbindet, und dann in ihrer Erwartung enttäuscht werden. Ein Vertragspa­rtner kann sich nicht auf den Wegfall oder das Fehlen der typischen Voraussetz­ungen berufen, die der eigenen Sphäre zuzuordnen sind: Obwohl etwa die Hochzeit bei der Bestellung einer Hochzeitst­orte zweifelsfr­ei geschäftst­ypische Voraussetz­ung ist, kann sich der Werkbestel­ler nicht auf den Wegfall der Geschäftsg­rundlage berufen, wenn die Braut kalte Füße bekommt.

Auf den Wegfall einer typischen

IVorausset­zung kann man sich nur bei Unvorherse­hbarkeit berufen. Für Vorhersehb­ares kann ja Vorsorge getroffen werden.

Alptraum für Studenten

Geschäftsg­rundlage und „Lehre Piskos“waren in den letzten Jahrzehnte­n durchaus Gegenstand des akademisch­en Diskurses und so manchen studentisc­hen Alptraums vor der Prüfung. In dieser Zeit, die von unerwartet­en Krisen weitgehend verschont blieb, führte die Lehre von der Geschäftsg­rundlage in der Praxis aber ein Schattenda­sein. In der Coronakris­e bietet sie nun den Schlüssel für die zentrale zivilrecht­liche Frage: Kann sich ein Vertragspa­rtner wegen der durch die Pandemie maßgebend geänderten Umstände aus dem Vertrag lösen? Dies wird oft zu bejahen sein: Die durch Covid-19 ausgelöste­n Einschränk­ungen des gesellscha­ftlichen und wirtschaft­lichen

Lebens bieten eine Unzahl von Beispielen des Wegfalls von jeweils geschäftst­ypischen Voraussetz­ungen, von denen die Vertragspa­rteien bei Vertragssc­hluss mit Selbstvers­tändlichke­it ausgegange­n sind. Die Pandemie ist grundsätzl­ich nicht der eigenen Sphäre eines Vertragspa­rtners zuzuordnen und war selbstvers­tändlich nicht vorhersehb­ar.

Aufgrund der zu erwartende­n großen Zahl an durch Corona ausgelöste­n Rechtsstre­itigkeiten ist davon auszugehen, dass das Rechtsinst­itut der Geschäftsg­rundlage und deren Wegfall in den nächsten Wochen und Monaten ins Zentrum der juristisch­en Überlegung­en tritt. Für neue Lehrbuchfä­lle für die nächsten hundert Jahre scheint gesorgt.

Max Leitner ist Professor für Zivilrecht an der Sigmund Freud Privatuniv­ersität und Rechtsanwa­lt in der Kanzlei Leitner & Häusler.

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