Die Coronakrise und der abgesagte Krönungszug
Wegfall der Geschäftsgrundlage. Eine eher exotische Rechtsfigur rückt schlagartig ins Zentrum von juristischen Auseinandersetzungen.
Wien. Wer vor der Coronakrise Verträge geschlossen hat, sieht sich im Erfüllungsstadium nun häufig mit unerwarteten Umständen konfrontiert, die ein Festhalten am Vertrag unzumutbar erscheinen lassen. Die Lehre von der Geschäftsgrundlage und deren Wegfall kreist um die Möglichkeit, sich von Verträgen zu lösen, wenn die von den Parteien als selbstverständlich erachteten Umstände wegfallen. Diese in der Krisenzeit nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte und etwas verstaubte Rechtsfigur tritt nun in den Fokus des praktischen Interesses.
Die Lehrbuchbeispiele zur Geschäftsgrundlage stammen aus ferner Zeit: Ein Fensterplatz wird zur Besichtigung eines Krönungszugs gemietet, der in weiterer Folge abgesagt wird. Ein Fabrikant schließt vor dem Ersten Weltkrieg einen Inseratenvertrag auf mehrere Jahre ab; nach Kriegsausbruch können die angepriesenen Waren nicht mehr hergestellt werden. Mit der Irrtumsanfechtung kommt man der Geschäftsgrundlagenproblematik nicht bei, weil der Irrtum über Zukünftiges in der Regel ein unbeachtlicher Motivirrtum ist. Zur Bedingung werden die Umstände wiederum regelmäßig nicht gemacht, weil die Parteien sie als so sicher annehmen, dass sie dies nicht für nötig halten.
Idee aus Zwischenkriegszeit
In Österreich entwickelte Oskar Pisko (1876–1939) in der krisengeschüttelten Zwischenkriegszeit im Wege der Gesamtanalogie aus mehreren Einzelbestimmungen des ABGB seine Lehre von der Geschäftsgrundlage, der die Rechtsprechung bis auf den heutigen Tag weitgehend folgt. Pisko – und mit ihm grundsätzlich die Judika
IItur – knüpft die Anfechtungsmöglichkeit eines Vertrages wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage an drei Voraussetzungen:
Die Vertragsparteien müssen bei Vertragsschluss mit Selbstverständlichkeit vom Bestehen, Fortbestehen oder künftigen Eintritt geschäftstypischer Voraussetzungen ausgehen, die jedermann mit einem solchen Geschäft verbindet, und dann in ihrer Erwartung enttäuscht werden. Ein Vertragspartner kann sich nicht auf den Wegfall oder das Fehlen der typischen Voraussetzungen berufen, die der eigenen Sphäre zuzuordnen sind: Obwohl etwa die Hochzeit bei der Bestellung einer Hochzeitstorte zweifelsfrei geschäftstypische Voraussetzung ist, kann sich der Werkbesteller nicht auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage berufen, wenn die Braut kalte Füße bekommt.
Auf den Wegfall einer typischen
IVoraussetzung kann man sich nur bei Unvorhersehbarkeit berufen. Für Vorhersehbares kann ja Vorsorge getroffen werden.
Alptraum für Studenten
Geschäftsgrundlage und „Lehre Piskos“waren in den letzten Jahrzehnten durchaus Gegenstand des akademischen Diskurses und so manchen studentischen Alptraums vor der Prüfung. In dieser Zeit, die von unerwarteten Krisen weitgehend verschont blieb, führte die Lehre von der Geschäftsgrundlage in der Praxis aber ein Schattendasein. In der Coronakrise bietet sie nun den Schlüssel für die zentrale zivilrechtliche Frage: Kann sich ein Vertragspartner wegen der durch die Pandemie maßgebend geänderten Umstände aus dem Vertrag lösen? Dies wird oft zu bejahen sein: Die durch Covid-19 ausgelösten Einschränkungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Lebens bieten eine Unzahl von Beispielen des Wegfalls von jeweils geschäftstypischen Voraussetzungen, von denen die Vertragsparteien bei Vertragsschluss mit Selbstverständlichkeit ausgegangen sind. Die Pandemie ist grundsätzlich nicht der eigenen Sphäre eines Vertragspartners zuzuordnen und war selbstverständlich nicht vorhersehbar.
Aufgrund der zu erwartenden großen Zahl an durch Corona ausgelösten Rechtsstreitigkeiten ist davon auszugehen, dass das Rechtsinstitut der Geschäftsgrundlage und deren Wegfall in den nächsten Wochen und Monaten ins Zentrum der juristischen Überlegungen tritt. Für neue Lehrbuchfälle für die nächsten hundert Jahre scheint gesorgt.
Max Leitner ist Professor für Zivilrecht an der Sigmund Freud Privatuniversität und Rechtsanwalt in der Kanzlei Leitner & Häusler.