In der Krise zeigt sich der Charakter
In zynischem Kalkül bugsiert sich der Lebensmitteleinzelhandel gerade zum eigentlichen Krisengewinner.
Es ist schwer zu begreifen, wie schnell eine infektiöse organische Struktur eine globale Krise auslöst, Tausenden Menschen das Leben kostet und die Wirtschaft in ihre größte Krise der Nachkriegszeit stürzt. Für das, was kommen kann, fehlt noch der klare Blick.
Vorbildhaft war bisher aus österreichischer Perspektive das Handeln des Staates. Die neue Regierung agiert entschlossen und souverän, die Legislative funktioniert auch im Krisenmodus und die Behörden arbeiten unter erschwerten Bedingungen zum Wohl der Menschen.
Noch mehr beeindruckt die Zivilbevölkerung. Weitgehend ohne Murren und Widerstand werden die massiven Einschränkungen im täglichen Leben hingenommen. Auch viele Unternehmen halten sich an die eilig verfassten Gesetze und Verordnungen: Im Bewusstsein der großen Verantwortung ist man vorsichtig, sucht keine Schlupflöcher, sondern schränkt sich mehr ein, als unbedingt erforderlich ist. Denn: Verantwortung für alle beginnt bei jedem Einzelnen. Es ringt einem Respekt ab: Die gigantischen Verluste und Existenzsorgen nehmen Kleine wie Große fast stoisch hin!
Allein gewisse Spieler im Lebensmitteleinzelhandel leben offenbar nach eigener Moral und scheinen die Krise als große Chance zu sehen, endlich richtig Cash zu machen: Die drei deutschen und eine österreichische Handelskette stilisieren sich in grossangelegte Werbesujets, in TV- und Hörfunkspots zu den einsamen Helden dieser Krise. Und während die Kassierer und Lagerarbeiter dort tatsächlich Großartiges leisten, bedanken sich aus dem bequemen und sicheren Home-Office die Geschäftsführer und Marketingstrategen dieser Ketten bei den Mindestlohn-Regalschlichtern mit ganzseitigen Inseraten.
Landwirte, Molkerei- und Mühlenarbeiter sowie Lkw-Fahrer, die Mitarbeiter der öffentlichen Dienstleister – von der Energieversorgung bis zur Müllabfuhr – gibt es in der Welt der Handelsriesen scheinbar nicht. Nein, die Republik steht und fällt offenbar einzig und allein mit dem Lebensmitteleinzelhandel.
Marktposition ausbauen
Dabei nimmt dieser in der Krise nicht bloß seine eigentliche Rolle als Versorger mit Waren zur Deckung der Grundbedürfnisse des täglichen Lebens wahr. Nein: In zynischem Kalkül bugsiert sich der LEH zum eigentlichen Krisengewinner. Jetzt werden Rabattschlachten inszeniert (25-%-Wochenende) und weit über eine Grundversorgung hinausgehende Sortimente, welche andere pflichtbewusst wegsperren, werden offensiv beworben und aggressiv nachgeliefert. Das Ziel: Möglichst viele Kunden in die Geschäfte zu locken. Dabei nimmt man offenbar bewusst in Kauf, die Weiterverbreitung des Virus zusätzlich zu befördern. Schließlich geht es wohl auch darum, die Marktposition für die Zeit nach der Krise weiter auszubauen. Und niemand hat Mut, dagegen aufzutreten. Die Jahresgewinne des LEH werden so bereits im Mai eingefahren sein. Gleichzeitig werden jene, die ihre Verantwortung wahrnehmen, die Geschäfte sperren, und die um ihre Existenz bangen, polizeilich überwacht und eingeschränkt (auch mit Zivilkräften).
Dieses Verhalten macht Angst. Unsere Gesellschaft muss gerade in Krisen ein gutes Gespür für Zusammenhalt, Fairness und Gerechtigkeit und Anstand haben. Wenn wir – neben unserer Gesundheit – etwas in dieser Krise verteidigen müssen, dann sind es unsere Grundwerte wie Demokratie und Gerechtigkeit. Jetzt zeigt sich, wer Verantwortung trägt und richtig handelt. Gier und Rücksichtslosigkeit dürfen nicht belohnt werden.
Dipl.-Ing. Reinhard Wolf, Generaldirektor der Raiffeisen Ware Austria AG, Großhändler für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Betriebsmittel mit 2200 Mitarbeitern.