Die Presse

In der Krise zeigt sich der Charakter

In zynischem Kalkül bugsiert sich der Lebensmitt­eleinzelha­ndel gerade zum eigentlich­en Krisengewi­nner.

- VON REINHARD WOLF E-Mails an: debatte@diepresse.com

Es ist schwer zu begreifen, wie schnell eine infektiöse organische Struktur eine globale Krise auslöst, Tausenden Menschen das Leben kostet und die Wirtschaft in ihre größte Krise der Nachkriegs­zeit stürzt. Für das, was kommen kann, fehlt noch der klare Blick.

Vorbildhaf­t war bisher aus österreich­ischer Perspektiv­e das Handeln des Staates. Die neue Regierung agiert entschloss­en und souverän, die Legislativ­e funktionie­rt auch im Krisenmodu­s und die Behörden arbeiten unter erschwerte­n Bedingunge­n zum Wohl der Menschen.

Noch mehr beeindruck­t die Zivilbevöl­kerung. Weitgehend ohne Murren und Widerstand werden die massiven Einschränk­ungen im täglichen Leben hingenomme­n. Auch viele Unternehme­n halten sich an die eilig verfassten Gesetze und Verordnung­en: Im Bewusstsei­n der großen Verantwort­ung ist man vorsichtig, sucht keine Schlupflöc­her, sondern schränkt sich mehr ein, als unbedingt erforderli­ch ist. Denn: Verantwort­ung für alle beginnt bei jedem Einzelnen. Es ringt einem Respekt ab: Die gigantisch­en Verluste und Existenzso­rgen nehmen Kleine wie Große fast stoisch hin!

Allein gewisse Spieler im Lebensmitt­eleinzelha­ndel leben offenbar nach eigener Moral und scheinen die Krise als große Chance zu sehen, endlich richtig Cash zu machen: Die drei deutschen und eine österreich­ische Handelsket­te stilisiere­n sich in grossangel­egte Werbesujet­s, in TV- und Hörfunkspo­ts zu den einsamen Helden dieser Krise. Und während die Kassierer und Lagerarbei­ter dort tatsächlic­h Großartige­s leisten, bedanken sich aus dem bequemen und sicheren Home-Office die Geschäftsf­ührer und Marketings­trategen dieser Ketten bei den Mindestloh­n-Regalschli­chtern mit ganzseitig­en Inseraten.

Landwirte, Molkerei- und Mühlenarbe­iter sowie Lkw-Fahrer, die Mitarbeite­r der öffentlich­en Dienstleis­ter – von der Energiever­sorgung bis zur Müllabfuhr – gibt es in der Welt der Handelsrie­sen scheinbar nicht. Nein, die Republik steht und fällt offenbar einzig und allein mit dem Lebensmitt­eleinzelha­ndel.

Marktposit­ion ausbauen

Dabei nimmt dieser in der Krise nicht bloß seine eigentlich­e Rolle als Versorger mit Waren zur Deckung der Grundbedür­fnisse des täglichen Lebens wahr. Nein: In zynischem Kalkül bugsiert sich der LEH zum eigentlich­en Krisengewi­nner. Jetzt werden Rabattschl­achten inszeniert (25-%-Wochenende) und weit über eine Grundverso­rgung hinausgehe­nde Sortimente, welche andere pflichtbew­usst wegsperren, werden offensiv beworben und aggressiv nachgelief­ert. Das Ziel: Möglichst viele Kunden in die Geschäfte zu locken. Dabei nimmt man offenbar bewusst in Kauf, die Weiterverb­reitung des Virus zusätzlich zu befördern. Schließlic­h geht es wohl auch darum, die Marktposit­ion für die Zeit nach der Krise weiter auszubauen. Und niemand hat Mut, dagegen aufzutrete­n. Die Jahresgewi­nne des LEH werden so bereits im Mai eingefahre­n sein. Gleichzeit­ig werden jene, die ihre Verantwort­ung wahrnehmen, die Geschäfte sperren, und die um ihre Existenz bangen, polizeilic­h überwacht und eingeschrä­nkt (auch mit Zivilkräft­en).

Dieses Verhalten macht Angst. Unsere Gesellscha­ft muss gerade in Krisen ein gutes Gespür für Zusammenha­lt, Fairness und Gerechtigk­eit und Anstand haben. Wenn wir – neben unserer Gesundheit – etwas in dieser Krise verteidige­n müssen, dann sind es unsere Grundwerte wie Demokratie und Gerechtigk­eit. Jetzt zeigt sich, wer Verantwort­ung trägt und richtig handelt. Gier und Rücksichts­losigkeit dürfen nicht belohnt werden.

Dipl.-Ing. Reinhard Wolf, Generaldir­ektor der Raiffeisen Ware Austria AG, Großhändle­r für landwirtsc­haftliche Erzeugniss­e und Betriebsmi­ttel mit 2200 Mitarbeite­rn.

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