Das NS-Entbindungsheim im Wienerwald
Zeitgeschichte. Das Heim Wienerwald des nationalsozialistischen Vereins „Lebensborn“ist heute eine Ruine, ein düsterer Fleck in einem Seitental der Piesting. Historikerin Barbara Stelzl-Marx beleuchtet seine Geschichte nun erstmals im Detail.
Na, servas“, kommentiert ein junger Mann das, was er mit seiner Handykamera festhält, in einem von zahlreichen YouTube-Videos aus dem Inneren des ehemaligen NS-Heims Wienerwald. „Unfassbar gruselig“, befindet ein anderer Bursche. Das verfallene Gebäude zieht seit Jahren nicht nur Abenteuerlustige, sondern auch Rechtsextreme an. Viele aufgesprayte Hakenkreuze zeugen davon. Die Gänge und Zimmer sind vermüllt, die Wände beschmiert, die Fenster eingeschlagen, Einrichtungsgegenstände demoliert.
Der heruntergekommene Komplex liegt, in der Landschaft versteckt, in der niederösterreichischen Ortschaft Feichtenbach. Das fünfgeschoßige Gebäude wurde
Anfang des 20. Jahrhunderts als Lungenheilanstalt von zwei jüdischen Ärzten errichtet und durchlebte in den darauffolgenden Jahren eine wechselvolle Geschichte. Einem düsteren Kapitel widmet sich jetzt ein vom Jubiläumsfonds der Nationalbank und dem Land Niederösterreich gefördertes Projekt der Historikerin Barbara Stelzl-Marx von der Universität Graz, die auch das Ludwig-Boltzmann-Institut (LBI) für Kriegsfolgenforschung leitet: die Nutzung des Sanatoriums nach dessen „Arisierung“im Jahr 1938 als „Lebensborn“-Heim.
Ziel des 1935 gegründeten SSVereins „Lebensborn“war die Erhöhung der Geburtenziffer „arischer“Kinder durch spezielle Entbindungsanstalten. In diesen war anonymes Gebären für unverheiratete Frauen, die von SS-Offizieren oder Wehrmachtssoldaten ein Kind erwarteten, erlaubt. Außerdem wickelte man hier die anschließenden Adoptionen – bevorzugt an SS-Angehörige – ab. Diese Maßnahmen sollten die Betroffenen von Abtreibungen abhalten – denn uneheliche Kinder galten als Schande, so Stelzl-Marx. Darüber hinaus verschleppte der Verein Kinder aus besetzten Gebieten, wenn diese als „arisch“galten. Sie wurden parteitreuen deutschen Familien überlassen.
Anonyme Geburten
„Lebensborn“unterhielt zwischen 1936 und 1945 neun Entbindungsanstalten im Gebiet des heutigen Deutschland und weitere 15 in Österreich, Luxemburg, Belgien, Frankreich und Norwegen. Im Heim Wienerwald, der größten Entbindungsanstalt des Vereins, kamen geschätzt 1300 Kinder zur Welt. „In der Ostmark gab es nur ein zweites Heim, jenes in Schloss Oberweis in Oberösterreich“, erklärt Stelzl-Marx. „Hier wurden jedoch keine Geburten abgewickelt, es wurde für die ,Germanisierung‘ der entführten polnischen Kinder genutzt.“
Das aus historischer Sicht Besondere an „Lebensborn“ist für die Forscherin, wie der Verein die Verbindung von Sexual- und Bevölkerungspolitik der nationalsozialistischen Ideologie umgesetzt hat. Und zwar analog zur Losung von Reichsführer-SS Heinrich Himmler: „Heilig soll uns sein jede Mutter guten Blutes.“Stelzl-Marx: „Auf der einen Seite hat man also die Vernichtung ,unwerten‘ Lebens, die Ermordung von Juden, von sowjetischen Kriegsgefangenen, die Euthanasie und auf der anderen Seite die ganz gezielte Förderung des ,erbgesunden‘ Nachwuchses.“Anders als immer wieder fälschlicherweise angenommen handelte es sich bei den „Lebensborn“-Heimen nicht um „Zuchtanstalten“.
Neben der Möglichkeit für anonyme Geburten unehelicher Kinder war es auch den Ehefrauen von SS-Angehörigen erlaubt, in den Heimen zu entbinden. Die
Mütter des Heimes Wienerwald kamen aus allen Teilen des Reiches. Sie mussten sich bewerben und wurden vor Ort mittels Fragebogen nach „rassischen“Kriterien beurteilt. Für das zweijährige Projekt wertet Stelzl-Marx gemeinsam mit ihrem Kollegen Lukas Schretter bislang in der Forschung wenig berücksichtigte Dokumente aus. Sie erhofft sich daraus detailliertere Erkenntnisse zur Sozialstruktur der Mütter und zu den Kriterien, nach denen sie im Heim Wienerwald aufgenommen wurden.
Neben der Geschichte der Entbindungsanstalt und dem Umgang mit dem Ort nach dem Krieg interessiert sich die Historikerin aber nicht nur für die Mütter, sondern auch für das eingesetzte mehr als fünfzigköpfige Personal sowie für die Väter der dort geborenen Kinder. Vor allem über Letztere weiß man wenig. Die Namen wurden vielfach geheim gehalten und gegenüber den Kindern tabuisiert. Ein Augenmerk gilt schließlich den Kindern selbst und ihren weiteren Lebensläufen.
„Ein sensibles Thema ist der Umgang mit jenen Kindern, die nicht gesund auf die Welt gekommen sind“, so Stelzl-Marx. „Wir wollen nachverfolgen, was mit ihnen passiert ist.“Um die vielen offenen Fragen rund um das Heim Wienerwald zu klären, will sie nicht nur historische Dokumente untersuchen, sondern sie ist auch auf der Suche nach Zeitzeugen (Kontakt: 0316/380-82 72 bzw. lukas.schretter@bik.ac.at).
Verfallen und verbarrikadiert
Nach Kriegsende wurde die Entbindungsanstalt als Kindererholungsheim genutzt, später kaufte es der Gewerkschaftsbund und es wurde als Hotel genutzt. Seit Anfang der 2000er-Jahre steht das Gebäude leer und verfällt zunehmend. Mittlerweile ist es verbarrikadiert und unzugänglich. Und selbst abenteuerlustigen Erkundern ist die Lust darauf vergangen: Um reinzukommen, müsse man klettern, das sei „riskant, und es lohnt sich nicht mehr, weil es schon so dermaßen zerstört wurde“, bedauert einer.
SS-Angehörige wurden motiviert, ihre Gene auch außerehelich weiterzugeben.
Barbara Stelzl-Marx, Historikerin,
Uni Graz, LBI für Kriegsfolgenforschung