Das idealisierte Leid junger Frauen
Forscherinnen der Unis Innsbruck und Antwerpen untersuchen Schmerz im 19. Jahrhundert aus katholischer Perspektive. Zentral für das Projekt sind die sogenannten Stigmatisierten.
Von nah und fern eilten die Gläubigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das südlich von Bozen gelegene Weindorf Kaltern. Binnen eines einzigen Sommers waren es 40.000 Menschen. Wallfahrtsort war der Gutshof, auf dem Maria von Mörl (1812−1868) lebte. Die Pilgerinnen und Pilger wollten die junge Adelige sehen, die ekstatisch mit zum Himmel gerichteten Augen und gefalteten Händen über ihrem Bett geschwebt sein soll.
Das „ekstatische Fräulein“
Maria von Mörl widmete schon als junges Mädchen viel ihrer Zeit dem Gebet. Nach dem Tod der Mutter musste sie sich um ihre Geschwister kümmern, immer schon kränklich erkrankte sie als 17-Jährige schwer. Zunehmend häufig geriet sie daraufhin in jene ekstatischen Zustände, die sie weit über die Grenzen des Landes hinaus berühmt machten. 1834 bekam sie schließlich jeden Freitag an Händen und Füßen Wundmale, sie schien die Passion Christi mitzuerleben – und wurde zu einer der bekanntesten Stigmatisierten.
„Schmerz als Phänomen hat eine Geschichte, wie auch Körper eine Geschichte haben“, sagt die Historikerin Maria Heidegger vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. „Schmerz hat etwas mit Kultur, Religion, Geschlecht, Alter und vielen anderen Faktoren zu tun und ist zutiefst mit historischen Erfahrungen verknüpft.“Sie beschäftigt sich in einem 2018 angelaufenen Kooperationsprojekt mit der Universität Antwerpen – gefördert vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF – mit katholischen Perspektiven auf Schmerz im Österreich des 19. Jahrhunderts.
Mit der Erfindung der Narkose 1846 setzte in der Medizingeschichte ein Fortschrittsnarrativ ein: Schmerz kann bekämpft werden und wird auch bekämpft. Unumstritten sei das jedoch nicht gewesen, so Heidegger. Als Reaktion auf die Moderne lebte zu dieser Zeit zudem die barocke Frömmigkeitskultur auf, die dem Leiden einen hohen Stellenwert beimaß.
„Es gab eine Hinwendung zu romantisierten, mystischen Frömmigkeitsformen, einen Herz-JesuKult, Marienerscheinungen und eben auch die Stigmatisierten, deren Leid idealisiert wurde.“Parallel dazu erlebten Frauenorden, die sich aktiv in der Kranken- und Altenpflege einbrachten, v. a. in Tirol einen massiven Aufschwung.
Katholische Ambivalenzen
Heidegger will herausfinden, wie diese gegensätzlichen Haltungen zu Schmerz zusammenpassen. „Beides findet nicht nur an denselben Orten statt, sondern ist zum Teil auch bei denselben Personen zu beobachten“, betont die Historikerin. So waren es etwa oft Ordensschwestern, die Stigmatisierte mitbetreuten. Nur wenn man beide Phänomene gemeinsam betrachte, ergebe das ein akkurates Bild vom Umgang mit Schmerz im Katholizismus. In ihrer bisherigen Arbeit setzte sie sich intensiv mit emotionalem Leiden, mit psychischem Schmerz, mit Angst und „Hysterie“in der Psychiatriegeschichte auseinander – alles auch Charakteristika der Zustände, die Stigmatisierte erlebten. Die religionshistorische Expertise in dem Projekt liefern die Belgierinnen. Eine Forschungsgruppe um Tine Van Osselaer er
trugen an Händen, Füßen und z. T. auf der Stirn regelmäßig blutende Wundmale (die Stigmata Christi). Insgesamt gab es in Europa mindestens hundert Stigmatisierte, in Tirol häuften sich die Fälle rund um Maria von Mörl. Die Betroffenen zeigten Bewusstseinsveränderungen, Absenzen, Ohnmachten, Trancezustände, Angstzustände, Schwermut und emotionale Instabilität. Heute wird das Phänomen vielfach mit Selbsthypnose oder Selbstverletzung in Verbindung gebracht. stellte eine Datenbank der Stigmatisierten in Europa, in die nun auch österreichische Stigmatisierte aufgenommen werden. „Die stigmatisierten Jungfrauen schlechthin im 19. Jahrhundert waren jene aus Tirol. Sie sorgten bei ihren Zeitgenossen für viel Aufsehen – sowohl für Bewunderung als auch für Kritik“, sagt Heidegger.
Die Forscherinnen untersuchen die Tiroler Stigmatisierten als „Prototypen“, aber zum StadtLand- bzw. Ost-West-Vergleich etwa auch die Stigmatisierte Juliana Weiskircher, die in der Nähe von Wien lebte. Gleichzeitig berücksichtigen sie den medizinhistorischen Fokus auf Schmerz. Wichtige Quelle dafür sind die Krankenakten aus dem Archiv des psychiatrischen Landeskrankenhauses Tirol. „Die Patientinnen kommen oft selbst zu Wort, und ihre Wahrnehmung von Schmerz fließt in die Behandlungsprotokolle mit ein.“Eine weitere Datenbasis sind die umfangreichen Krankenakten des Pustertaler Landarztes Franz von Ottenthal, in denen Heidegger auf eine Vielzahl von Metaphern über Leiden gestoßen ist.
Schmerz als Strafe
Um ihren Schmerz zu beschreiben, griffen Patientinnen nicht selten auf das Bild der Höllenqualen zurück. Andere berichteten, sie fühlten sich, als ob sie von innen aufgefressen würden. „Auch der Teufel kommt oft ins Spiel.“Die Vorstellung von Schmerz als Strafe, etwa ein auf den Kopf einhämmernder Teufel, der Migräne verursacht, sei gängig gewesen.
Haben die Menschen früher Schmerzen anders empfunden als heute? „Weh tut’s im 19. Jahrhundert genauso wie im 20. und 21. Jahrhundert. Aber es gibt andere Arten, damit umzugehen. Heute praktiziert und kultiviert man den Schmerz, indem man ihm möglichst aus dem Weg geht, etwa indem man schnell oder schon präventiv ein Mexalen aus dem Küchenkastl nimmt.“Gleichzeitig hätten sich masochistische Praktiken und ihre Akzeptanz verändert: „Wenn heute jemand in die Psychiatrie kommt, nimmt man ihm vielleicht nicht den Bußgürtel ab, aber behandelt eine andere Art selbstverletzenden Verhaltens.“