Nun prägt die Physik das Kulturleben
Corona-Ästhetik. Schon lang nicht hat sich die Politik so direkt in die Kultur eingemischt, wie sie es – notgedrungen – derzeit tut. Von Orchesterbesetzungen bis zum Inszenierungsstil, überall wird Sars-CoV-2 mitbestimmen.
Schon lang nicht hat sich die Politik so direkt in die Kultur eingemischt, wie sie es derzeit tut. Von Orchesterbesetzungen bis zur Inszenierung, überall bestimmt das Virus mit.
Ich lasse mir doch nicht von einem Herrn Kurz, einem Herrn Anschober und einer Frau Lunacek erklären, wie ich Theater zu praktizieren habe!“Sagte Herbert Föttinger, Direktor des Theaters in der Josefstadt, in der „Presse am Sonntag“– und diagnostizierte eine „Bankrotterklärung der dramatischen Kunst“. Tatsächlich sind Künstler in Coronazeiten damit konfrontiert, dass die Politik in ihre Praxis hineinregiert. Wie übrigens auch in die Praxis der Wirte und Pfarrer, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Wie kräftig soll/darf die Politik hineinregieren? Da reden die Virologen mit, und die sind sich selten einig. Grundsätzlich muss man dreierlei unterscheiden: erstens die Ansteckungsgefahr im Publikum, zweitens mögliche Ansteckungen der Künstler untereinander, drittens Virenübertragung von Künstlern aufs Publikum.
Diese ist im Kino auszuschließen, auch dem ärgsten Seuchenthriller entweichen keine Erreger. Noch eines ist trivial: Wenn bei einer Aufführung niemand, weder auf der Bühne noch im Publikum, das Virus in sich trägt, kann nichts passieren. Leider ist das nie zu garantieren: Auch wenn alle getestet sind, kann sich jemand zwischen Test und Aufführung frisch angesteckt haben. Doch dieses Risiko wäre wohl tragbar. Wie überhaupt in allen Bereichen, vom Gasthaus bis zum Baumarkt, Risken in Kauf genommen werden, warum nicht auch in der Kultur?
Finanziell am heikelsten sind die Maßnahmen, die die Ansteckung im Publikum minimieren sollen: Je mehr Fläche pro Besucher vorgesehen ist, umso geringer sind die Kartenerlöse. Von 20 Quadratmetern pro Person sprach Staatssekretärin Lunacek am 17. April, später wurden es zehn. Parkett und Parterre des Burgtheaters haben zusammen 600 Quadratmeter, dort gingen sich also höchstens 60 Besucher aus. So strenge Bedingungen seien nötig, meinen manche Virologen, da Aerosole (Tröpfchen, die in der Luft schweben), die Viren enthalten könnten, sich schnell verbreiten.
Beim Popfest „weit auseinander stehen“
Anders sieht es bei Theater und Konzerten an der frischen Luft aus: Da Aerosole dort viel weiter – vor allem auch in die dritte Dimension! – diffundieren können, ist die Gefahr viel geringer. Spricht für Sommertheater. Die Wiener Kulturstadträtin, Veronika Kaup-Hasler, überlegt auch, das traditionelle Popfest stattfinden zu lassen, allerdings nicht am Karlsplatz, sondern im Volkspark am Laaer Berg, dort müssten die Menschen halt „weit auseinander stehen“, meinte sie im „Standard“. Das wird bei freiem Eintritt, wie bisher beim Popfest üblich, allerdings wohl nicht zu gewährleisten sein.
Was die mögliche Ansteckung der Künstler untereinander und des Publikums durch die Künstler betrifft, ist ein traditionelles Rockkonzert wohl eine der weniger riskanten Formen. Schwingende Saiten (Gitarren), Felle und Metallplatten (Schlagzeug) verbreiten keine Viren, und durch die Mikrofonverstärkung muss der Sänger selbst weniger (potenziell mit Viren getränkte) Luft bewegen als Opernsänger. Ähnlich harmlos, virentechnisch gesehen, sind Streicherensembles.
Am problematischsten scheinen die Blasinstrumente. Wer je einen Posaunisten sein Instrument ausleeren gesehen hat, glaubt gern, dass dieser beim Spielen ständig Aerosole erzeugt und verbreitet. Allerdings seien die Luftströme aus Blasinstrumenten geringer als beim normalen Sprechen, sagt eine Studie von Ärzten der Berliner Charite,´ die auf Initiative der sieben Berliner Orchester entstanden ist: „Mit einer Trompete eine Kerze auszublasen scheint sehr schwierig zu sein, während das selbst ein Kleinkind mit einem Puster hinbekommt“, argumentierte der Epidemiologe Stefan Willich in der „FAZ“. Die Studie empfiehlt, die Blechbläser mit einem Plexiglasschutz auszustatten, dazu Abstände: eineinhalb Meter für Streicher, zwei Meter für Bläser.
Und die „Sinfonie der Tausend“?
Nur einen Meter Mindestabstand schlugen dagegen acht österreichische Orchester (darunter die Symphoniker, nicht aber die Philharmoniker) in einem Brief an Lunacek vor, weiters empfahlen sie die Sitte des „amerikanischen Auftritts“, bei dem die Musiker vor Konzertbeginn einzeln hereinkommen.
Solche Regeln können auch essenziellere ästhetische Folgen haben, so drücken vorgeschriebene Abstände auf die Orchestergröße. Die „Salome“mit 59 statt mit 100 Musikern zu besetzen, wie es das Theater an der Wien im Jänner tat, wäre in Coronazeiten vorbildlich. Und wann wird man Mahlers Achte wieder als „Sinfonie der Tausend“wagen?
Mobiler sind die Abstände auf der Theaterbühne, es sei denn, man spielt Becketts „Spiel“, in dem alle drei Schauspieler in Urnen stecken. Oder inszeniert andere Stücke betont statisch, jedenfalls nicht so, wie es Lunacek bei ihrer unglücklichen Pressekonferenz ausdrückte: „Im Theater geht’s oft heftig zu, einmal gibt’s eine Schlägerei, einmal eine Liebesszene: Das wird nicht gehen.“Josefstadt-Direktor Föttinger hat Corona-Einflüsse auf Spielplan und Regiestil freilich genauso ausgeschlossen wie etliche seiner Kollegen.
Sie werden trotzdem spürbar sein, selbst bei lockerster Auslegung der Corona-Spielregeln, allein durch unser Empfinden für körperliche Abstände, das sich in den vergangenen Wochen so drastisch geändert hat. Und vielleicht ist das gar nicht schlecht. Denn Kunst soll auch ihre Zeit spiegeln, und was prägt unsere Zeit mehr als das verflixte Virus?