Leitartikel
Die EU und ihre Mitglieder bemühen sich nach Kräften, die Kluft zwischen Wunsch nach Erholung und pandemischer Wirklichkeit zu überbrücken.
Margrethe
Vestager hat recht: Das wird kein normaler Sommer. Wenn der Urlaub nur dort stattfinden darf, wo die medizinische Infrastruktur voll ausgebaut ist, wenn das Planschen im Swimmingpool vorab per App gebucht werden muss, wenn im Ferienflieger Vermummungspflicht herrscht, dann stellt sich leise die Frage, ob ein derartiger „Genuss“der persönlichen Erholung dient – oder eher der Rettung der für die europäische Volkswirtschaft wichtigen Fremdenverkehrsbranche. Die für Wettbewerb zuständige Vizepräsidentin der EU-Kommission und ihre Kollegen in der Brüsseler Behörde tun alles, um den Widerspruch zwischen dem weit verbreiteten Wunsch nach sommerlicher Normalität und der pandemischen Wirklichkeit möglichst klein erscheinen zu lassen. Ob mit Erfolg, wird sich in den kommenden Wochen an der Buchungslage ablesen lassen.
Gesunde Skepsis ist jedenfalls angebracht. Denn daran, dass die Strapazen der vergangenen zwei Monate nicht das Ende des Dramas waren, sondern höchstens das Ende des ersten Akts, gibt es gar keine Zweifel. Solang der Großteil der europäischen Bevölkerung nicht gegen Covid-19 immun ist – sei es, weil ein Impfstoff gefunden wurde, oder sei es wegen einer ausreichend hohen Durchseuchung –, kann und wird es eine Rückkehr zum Status quo ante nicht geben. Es kann auch durchaus sein, dass diese Rückkehr nicht mehr möglich ist. Warum? Weil unser Geschäftsmodell auf der maximalen Ausbeutung des Faktors Raum basiert: möglichst viele Sitzplätze im Flugzeug, möglichst viele Tische im Restaurant, möglichst viele Besucher im Museum, möglichst viele Touristen am Strand und möglichst viele Mitarbeiter im kleinstmöglichen Großraumbüro.
Corona hat den Faktor Raum in eine potenziell tödliche Gefahr verwandelt. Das bis dato einzig wirksame Antidot ist der Faktor Zeit. Es gilt, die Zahl der Menschen, die sich zur selben Zeit am selben Ort aufhalten, durch Streckung und Staffelung zu senken – deshalb die Anmeldung für den Swimmingpool. Das Problem ist nur, dass manche Geschäftstätigkeiten unter diesen Bedingungen schlicht und ergreifend nicht rentabel sein können. Wenn beispielsweise die Hälfte aller Airlines über den Jordan fliegt, dann wird der Traum vom billigen Reisen für länger ausgeträumt sein, weil im PostCorona-Zeitalter die dafür notwendige unternehmerische Infrastruktur nicht mehr vorhanden sein wird.
Auch das „Geschäftsmodell“der EU ist durch die Seuche in Gefahr. Die Union basiert auf der Logik der Öffnung – mehr grenzüberschreitender Austausch bedeutet mehr Wohlstand und Frieden. Corona zwingt Europa eine Logik der Schließung auf. Solang die Krankheitsverläufe von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sind, führt an Grenzkontrollen kein Weg vorbei. Und China führt uns gerade vor, dass sich neue Seuchenherde selbst mit den drakonischsten Maßnahmen nicht verhindern lassen.
Die Europäische Union sieht sich nun mit der Gefahr konfrontiert, dass sich diese Logik in den Hauptstädten festsetzt und zu Nullsummenspielen führt – und zwar nicht nur bei der Versorgung mit medizinischen Gütern wie zu Beginn der Pandemie, sondern auch im Kampf um die knappe Ressource Urlauber. Die Versuchung ist groß, durch selektive Grenzöffnungen den ohnehin spärlichen Touristenstrom von den Nachbarn zu lenken und in den eigenen Ferienorten zu stauen.
Ursula von der Leyen ist als Kommissionspräsidentin mit dem Anspruch angetreten, eine geopolitische Behörde zu führen. Die Aufgabe, die ihr die Pandemie aufgezwungen hat, ist weniger hochtrabend – aber umso existenzieller: Sie muss dafür sorgen, dass die EU als Gemeinschaft des Rechts erhalten bleibt. Der Kampf gegen die Aufweichung, Aushöhlung und Aushebelung der Regeln ist der einzige Maßstab, an dem sich der Erfolg der Ära von der Leyen wird ablesen lassen. Die Gefahr, die vom Virus ausgeht, hat diese Aufgabe nicht einfacher gemacht. Aber Brüssel darf sich nicht wegducken. Denn ohne gleiches Recht für alle hat die EU keinen Sinn.
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