Covid-19 gedeiht in Brasiliens Chaos
Südamerikas Hotspot. Die Therapie sei schädlicher als die Seuche, die Aufregung um das Virus eine „Neurose“: Präsident Bolsonaro inszeniert sich, während eine Amtsenthebung näher rückt.
BuEnos AirEs/Bras´ılia. „Wie bitte?“So entgegnete Brasiliens Gesundheitsminister, Nelson Teich, Journalisten, die ihn um Erklärung baten. Warum erkläre die Regierung gerade Friseure, Schönheitssalons und Fitnessstudios zu essentiellen Tätigkeiten, während sich das Coronavirus im Land schneller ausbreite als irgendwo sonst in der Welt. Der Minister, erst ein paar Wochen im Amt, war offenbar nicht konsultiert worden, bevor Präsident Jair Bolsonaro zu Wochenbeginn die landesweiten Arbeitsverbote für diese körpernahen Beschäftigungen aufhob. Er erfuhr davon erst vor laufenden Kameras.
Diese Episode vom Wochenanfang illustriert das institutionelle Chaos, mit dem das größte Land Lateinamerikas der Pandemie begegnet. Mit mehr als 11.500 registrierten Todesfällen und mehr als 168.000 Infizierten hat sich das fünftgrößte Land der Welt zum Hotspot von Covid-19 in Südamerika entwickelt. In sechs der 26 Bundesstaaten, darunter Rio de Janeiro, ist das öffentliche Gesundheitssystem zusammengebrochen.
Runde mit dem Jetski
Und nirgendwo in Amerika starben – in Relation – mehr Ärzte und Pflegekräfte als in Brasilien. Besonders in den ärmeren Bundesstaaten im Norden und Nordosten fehlt Personal, Material und Beatmungsgeräte. Der Gouverneur des Bundesstaates Para´ beklagte kürzlich, dass 1500 Geräte, die aus China geliefert wurden, nicht funktionieren würden.
Am 26. Februar wurde bei einem Italien-Rückkehrer in Sao˜ Paulo die erste Covid-Infektion in Südamerika registriert. Womöglich grassierte es schon zuvor. Seitdem erließen die Behörden auf nationaler, bundesstaatlicher und lokaler Ebene eine Vielzahl von Quarantänemaßnahmen, die die Wirtschaft teuer zu stehen kommen. Mit mindestens sechs Prozent Defizit kalkuliert derzeit die Finanzwelt für 2020. Die Einbußen, die jene Brasilianer erleiden, die ihr Auskommen nicht im offiziellen Wirtschaftsleben verdienen, dürfte deutlich höher sein. Mit mehr als 41 Prozent bezifferte das nationale Statistikinstitut den Anteil des informellen Sektors Ende 2019.
Der Präsident weiß das und hat sich – wohl auch wegen der
Abkehr der Mittelschicht von seiner bizarren Amtsführung – nun zum Anwalt der kleinen Leute gemacht. Unablässig behauptet er, die Therapie sei schädlicher als die Seuche. Am Wochenende drehte er vor TV-Kameras einige Runden mit dem Jetski auf dem Stausee Paranoa´ in der Retortenhauptstadt Bras´ılia und erklärte erneut die Aufregung um das Coronavirus zu einer nationalen „Neurose“.
Derweil veranstalteten Anhänger des Präsidenten ein Grillfest auf der Esplanada dos Ministerios´ im Herzen der Hauptstadt. Sie ignorierten das Versammlungsverbot der Stadtregierung und widersetzten sich der Maskenpflicht. Zu ihrem Spaß warfen die „Bolsonaristas“mit Wasserbomben auf Fotos des Parlamentspräsidenten, der Gouverneure der Staaten Rio de Janeiro und Sao˜ Paulo sowie eines Höchstrichters.
Das sind momentan die erklärten Feindbilder Bolsonaros. Der Parlamentspräsident entzog ihm die Unterstützung. Die Gouverneure lasten seinen Querschüssen das Scheitern ihrer Quarantänemaßnahmen an. Und der Bundesrichter hat ein Strafverfahren gegen Bolsonaro eingeleitet, nachdem der vor zwei Wochen zurückgetretene Justizminister, Sergio´ Moro, den Staatschef erheblicher Einflussnahmen auf die Justiz bezichtigt hatte.
Diese Vorwürfe haben sich nun erhärtet. Am Dienstag wurde bekannt, dass dem obersten Gerichtshof – dem einzigen Justizorgan, das den Präsidenten strafrechtlich behelligen kann – ein zweistündiger Mitschnitt einer Kabinettssitzung vorliege. Darin habe sich der Präsident in rüden Worten über die Spitzen der Bundespolizei ausgelassen und angedroht, das
Führungspersonal dieser Einheit auszutauschen. Brasiliens Pendant zum FBI untersteht formell der Justiz und gehört nicht zum Einflussbereich der Staatsführung.
Ermittlungen gegen Söhne
Dass Bolsonaro das nicht akzeptieren wollte und vor zwei Wochen den Chef der Bundespolizei sowie deren Kommandeur in Rio de Janeiro feuern ließ, hat offenbar mit fortgeschrittenen Ermittlungen gegen Bolsonaros Söhne Fabio und Carlos und deren Umfeld zu tun.
Dem Bolsonaro-Clan wird vorgeworfen, enge Beziehungen zu Milizen aus Ex-Polizisten zu haben, die in mehreren Elendsvierteln die Macht der dort herrschenden Drogenkartelle übernommen haben. Es geht um schwere Delikte wie Erpressung, Bandenkriminalität und Geldwäsche. Dass Bolsonaro den früheren Leibwächter seines Sohnes zum Kripo-Chef machen wollte – was ihm das Oberste Gericht schließlich verbat – nährte den Verdacht, der Präsident wolle die Ermittlungen abwürgen. Der Mitschnitt aus dem Kabinett könnte Bolsonaro einer Amtsenthebung näher bringen.