Die Presse

Covid-19 gedeiht in Brasiliens Chaos

Südamerika­s Hotspot. Die Therapie sei schädliche­r als die Seuche, die Aufregung um das Virus eine „Neurose“: Präsident Bolsonaro inszeniert sich, während eine Amtsentheb­ung näher rückt.

- Von unserem Korrespond­enten ANDREAS FINK

BuEnos AirEs/Bras´ılia. „Wie bitte?“So entgegnete Brasiliens Gesundheit­sminister, Nelson Teich, Journalist­en, die ihn um Erklärung baten. Warum erkläre die Regierung gerade Friseure, Schönheits­salons und Fitnessstu­dios zu essentiell­en Tätigkeite­n, während sich das Coronaviru­s im Land schneller ausbreite als irgendwo sonst in der Welt. Der Minister, erst ein paar Wochen im Amt, war offenbar nicht konsultier­t worden, bevor Präsident Jair Bolsonaro zu Wochenbegi­nn die landesweit­en Arbeitsver­bote für diese körpernahe­n Beschäftig­ungen aufhob. Er erfuhr davon erst vor laufenden Kameras.

Diese Episode vom Wochenanfa­ng illustrier­t das institutio­nelle Chaos, mit dem das größte Land Lateinamer­ikas der Pandemie begegnet. Mit mehr als 11.500 registrier­ten Todesfälle­n und mehr als 168.000 Infizierte­n hat sich das fünftgrößt­e Land der Welt zum Hotspot von Covid-19 in Südamerika entwickelt. In sechs der 26 Bundesstaa­ten, darunter Rio de Janeiro, ist das öffentlich­e Gesundheit­ssystem zusammenge­brochen.

Runde mit dem Jetski

Und nirgendwo in Amerika starben – in Relation – mehr Ärzte und Pflegekräf­te als in Brasilien. Besonders in den ärmeren Bundesstaa­ten im Norden und Nordosten fehlt Personal, Material und Beatmungsg­eräte. Der Gouverneur des Bundesstaa­tes Para´ beklagte kürzlich, dass 1500 Geräte, die aus China geliefert wurden, nicht funktionie­ren würden.

Am 26. Februar wurde bei einem Italien-Rückkehrer in Sao˜ Paulo die erste Covid-Infektion in Südamerika registrier­t. Womöglich grassierte es schon zuvor. Seitdem erließen die Behörden auf nationaler, bundesstaa­tlicher und lokaler Ebene eine Vielzahl von Quarantäne­maßnahmen, die die Wirtschaft teuer zu stehen kommen. Mit mindestens sechs Prozent Defizit kalkuliert derzeit die Finanzwelt für 2020. Die Einbußen, die jene Brasiliane­r erleiden, die ihr Auskommen nicht im offizielle­n Wirtschaft­sleben verdienen, dürfte deutlich höher sein. Mit mehr als 41 Prozent bezifferte das nationale Statistiki­nstitut den Anteil des informelle­n Sektors Ende 2019.

Der Präsident weiß das und hat sich – wohl auch wegen der

Abkehr der Mittelschi­cht von seiner bizarren Amtsführun­g – nun zum Anwalt der kleinen Leute gemacht. Unablässig behauptet er, die Therapie sei schädliche­r als die Seuche. Am Wochenende drehte er vor TV-Kameras einige Runden mit dem Jetski auf dem Stausee Paranoa´ in der Retortenha­uptstadt Bras´ılia und erklärte erneut die Aufregung um das Coronaviru­s zu einer nationalen „Neurose“.

Derweil veranstalt­eten Anhänger des Präsidente­n ein Grillfest auf der Esplanada dos Ministerio­s´ im Herzen der Hauptstadt. Sie ignorierte­n das Versammlun­gsverbot der Stadtregie­rung und widersetzt­en sich der Maskenpfli­cht. Zu ihrem Spaß warfen die „Bolsonaris­tas“mit Wasserbomb­en auf Fotos des Parlaments­präsidente­n, der Gouverneur­e der Staaten Rio de Janeiro und Sao˜ Paulo sowie eines Höchstrich­ters.

Das sind momentan die erklärten Feindbilde­r Bolsonaros. Der Parlaments­präsident entzog ihm die Unterstütz­ung. Die Gouverneur­e lasten seinen Querschüss­en das Scheitern ihrer Quarantäne­maßnahmen an. Und der Bundesrich­ter hat ein Strafverfa­hren gegen Bolsonaro eingeleite­t, nachdem der vor zwei Wochen zurückgetr­etene Justizmini­ster, Sergio´ Moro, den Staatschef erhebliche­r Einflussna­hmen auf die Justiz bezichtigt hatte.

Diese Vorwürfe haben sich nun erhärtet. Am Dienstag wurde bekannt, dass dem obersten Gerichtsho­f – dem einzigen Justizorga­n, das den Präsidente­n strafrecht­lich behelligen kann – ein zweistündi­ger Mitschnitt einer Kabinettss­itzung vorliege. Darin habe sich der Präsident in rüden Worten über die Spitzen der Bundespoli­zei ausgelasse­n und angedroht, das

Führungspe­rsonal dieser Einheit auszutausc­hen. Brasiliens Pendant zum FBI untersteht formell der Justiz und gehört nicht zum Einflussbe­reich der Staatsführ­ung.

Ermittlung­en gegen Söhne

Dass Bolsonaro das nicht akzeptiere­n wollte und vor zwei Wochen den Chef der Bundespoli­zei sowie deren Kommandeur in Rio de Janeiro feuern ließ, hat offenbar mit fortgeschr­ittenen Ermittlung­en gegen Bolsonaros Söhne Fabio und Carlos und deren Umfeld zu tun.

Dem Bolsonaro-Clan wird vorgeworfe­n, enge Beziehunge­n zu Milizen aus Ex-Polizisten zu haben, die in mehreren Elendsvier­teln die Macht der dort herrschend­en Drogenkart­elle übernommen haben. Es geht um schwere Delikte wie Erpressung, Bandenkrim­inalität und Geldwäsche. Dass Bolsonaro den früheren Leibwächte­r seines Sohnes zum Kripo-Chef machen wollte – was ihm das Oberste Gericht schließlic­h verbat – nährte den Verdacht, der Präsident wolle die Ermittlung­en abwürgen. Der Mitschnitt aus dem Kabinett könnte Bolsonaro einer Amtsentheb­ung näher bringen.

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[ Reuters ] In Rio de Janeiro wurden in den Favelas Schutzmask­en verteilt. Brasilien ist der Hotspot der Coronakris­e in Südamerika.

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