Vergesst nicht auf das Immunsystem!
Die Politik redet viel über Hygiene und Masken – aber kaum über die Notwendigkeit, das Immunsystem zu stärken.
Viele Menschen haben derzeit Angst: vor einem exponentiellen Wachstum der Covid-19-Infektionen, vor einer Rezession oder vor noch strengeren Maßnahmen der Regierung, die gesundheitspolitisch vernünftig sind, aber zugleich essenzielle Freiheitsrechte einschränken. Nur: Angst war schon immer ein schlechter Lehrer und ist nachweislich schlecht für unser Immunsystem. Wer derzeit einkaufen geht, begegnet Menschen mit Masken. Masken kennen wir bisher fast nur aus Blockbustern oder von asiatischen Touristen, und sie täuschen einen gewissen Schutz vor. Die Fixierung der Diskussion auf Masken und Hygiene lenkt ab von einem viel wirkungsvolleren Mechanismus, den wir alle in uns tragen: das körpereigene Immunsystem. Davon ist derzeit kaum die Rede.
Österreichs Spitzenpolitiker sprechen von „Menschen, die an dieser Krankheit sterben werden“(Kurz, 30. 3.), von „eingebauten Notfallbremsen“(Kogler, 15. 4.) und der zweiten Welle, die „kein Tsunami“werden darf (Nehammer, 5. 5.). Die politischen Akteure erzeugen damit einen einseitigen Diskurs, indem sie einzelne Aspekte hervorheben, andere dafür aber ausblenden und übergehen. Das mag ein effizientes Lenkungsinstrument im politischen Tagesgeschäft sein, aber es bedient sich der Angst in manipulativer Weise und reduziert unsere Lösungsmöglichkeiten. Nicht Vorschriften und Angst sollten deshalb im Mittelpunkt des politischen Diskurses stehen, sondern unsere eigene Widerstandskraft auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. Hier hat unser Immunsystem eine entscheidende Rolle – auch bei der Abwehr viraler Infekte.
Es gibt gute Anzeichen dafür, dass die derzeit primär verordneten hygienischen Schutzmaßnahmen schnell wirken. Darüber hinaus sollte aber nicht vergessen werden, dass mittelfristig vor allem die individuelle Immunabwehr ein zentraler Faktor ist. Ein starkes Immunsystem wehrt eine Infektion entweder ab oder sorgt für einen leichteren Verlauf. Auch eine künftige Schutzimpfung beruht im Kern auf dem Wirken des Immunsystems.
Die Möglichkeiten, das Immunsystem zu stärken, sind zahlreich und wissenschaftlich belegt. Manche davon sind auch für Risikogruppen geeignet. Bekannt sind v. a. richtige Ernährung, körperliche Bewegung, emotional positive Beziehungen und ausreichend Schlaf. Es stimmt, was uns unsere Eltern schon gesagt haben: Geht raus an die frische Luft, bewegt euch, wascht euch die Hände, wenn ihr heimkommt, und geht früh schlafen.
Frischluft und früh ins Bett
Dass auch Meditation und andere Formen von Achtsamkeitspraxis in kurzer Zeit das Immunsystem nachweislich stärken, ist weit weniger bekannt. Achtsamkeitsübungen können Menschen dabei unterstützen, Risken realistisch einzuschätzen, Panik zu vermeiden und Mitgefühl als treibenden Faktor von Solidarität zu mobilisieren.
Durch Corona sind viele Menschen aktuell einem hohen Maß an Bedrohung ausgesetzt, und daher haben gerade jetzt die Aussagen der Spitzenpolitik eine große Bedeutung. Statt sich in ihrem massiv eingreifenden Handeln in Szene zu setzen, sollte sie mehr ihre Wirkung auf die demokratische Kultur bedenken und die Bürger dazu ermutigen, mit sich und ihrer Umgebung achtsam umzugehen. Ein Element davon ist, dass wir unser Immunsystem stärken und so einen wirkungsvollen Beitrag für eine gesunde und lebenswerte Zukunft leisten.
Dr. Patrick Scherhaufer arbeitet als Sozialwissenschaftler an der Universität für Bodenkultur Wien (Boku) und ist Mitglied von Scientists for Future.
Dr. Karlheinz Valtl lehrt Bildungswissenschaft an der Universität Wien und leitet dort das Projekt Achtsamkeit in LehrerInnenbildung und Schule (Albus).
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