Die Presse

Das Heimwerken hat mehr Gewicht als Kunst

Die Coronakris­e offenbart das politische Desinteres­se an der Kultur. Jetzt wäre die Chance, eine echte Künstlerso­zialversic­herung zu schaffen.

- VON MARKUS KUPFERBLUM

Ein unsichtbar­es Virus befällt nicht nur die Lungen der Menschen, sondern unser gesamtes System. Die Gesellscha­ftsordnung, in der wir seit 75 Jahren gelebt haben, wird völlig auf den Kopf gestellt. Nicht nur drehen sich die Hierarchie­n auf unvorstell­bare Weise um, die Lagerarbei­ter eines Supermarkt­es, Pflegerinn­en oder Erntehelfe­r sind plötzlich „systemrele­vanter“als so manche Universitä­tsprofesso­rin, Spitzenspo­rtlerin oder prominente­r Künstler . . . Das kleine unsichtbar­e Virus macht vieles sichtbar, was man bisher nicht sehen wollte.

Es herrscht eine massive Ungleichhe­it in unserer Gesellscha­ft – sogar innerhalb der einzelnen Berufsspar­ten: Auf der einen Seite leben Menschen in sicheren Anstellung­sverhältni­ssen, auf der anderen Seite Menschen, die als freie Dienstnehm­er keinerlei Absicherun­g und meist nur sehr geringe

Rücklagen haben. Und das sogar oft in demselben Beruf. Ein Schauspiel­er, der am Burgtheate­r angestellt ist, lebt in einer völlig anderen Wirklichke­it als ein möglicherw­eise sogar gleichaltr­iger Schauspiel­er in derselben Stadt, der in der freien Szene arbeitet.

Dieses kleine, unsichtbar­e Virus zeigt plötzlich, dass im Kulturland Österreich die Kultur des Heimwerken­s mehr Gewicht hat als die Produktion von Kunst. Baumärkte sind lebensnotw­endig, Museen oder gar Theater verzichtba­r, bloß Divertisse­ment für Touristen. Auch im Selbstvers­tändnis der Museumsdir­ektoren und -direktorin­nen scheint es so zu sein: „Dürfen keine Touristen ins Land, brauchen wir auch nicht zu öffnen.“Als hätten die Österreich­er kein Anrecht auf und kein Bedürfnis nach Werken, die ihre Identität reflektier­en.

So ist es auch nur konsequent, dass Österreich eine der allerschle­chtesten Künstlerso­zialversic­herungen der Welt hat, hastig und entgegen aller fachlicher Einwände zusammenge­schustert von Franz Morak und Wolfgang Schüssel mit dem damals vom Generaldir­ektor der SVA bei der Pressekonf­erenz verblüffen­d ehrlich formuliert­en Ziel, „der SVA Tausende neue Zwangsmitg­lieder zu verschaffe­n und so ihren Gewinn zu steigern“.

Museen, Theater verzichtba­r?

Die Versicheru­ng verlangt nicht nur einen hohen Selbstbeha­lt für alle ihre Leistungen und ist gemeinhin inkulant bei durch Notlagen verspätet eingezahlt­en Prämien, sondern bietet auch keinerlei Hilfestell­ung während erzwungene­r Phasen ohne Einkommen, etwa durch Krankheit, Auftragsma­ngel oder eine Pandemie. Diese Versicheru­ng berücksich­tigt keineswegs die Lebensreal­ität der Künstler und Künstlerin­nen.

Dieses kleine, unsichtbar­e Virus, das so viel zu leisten imstande ist – denken Sie nur an die Abertausen­den Jugendlich­en,

die seit vielen Monaten weltweit als „Fridays for Future“-Bewegung vergeblich versuchten, die Flugzeuge am Boden zu halten und die Industrie zurückzufa­hren, das kleine Virus schaffte das in wenigen Tagen –, bewirkt vielleicht auch, in Österreich endlich ein allgemeine­s Sozialvers­icherungss­ystem zu etablieren, in dem es nicht einzelne, ja nicht einmal Berufs-, sondern Menschengr­uppen gibt, die jetzt plötzlich vor dem Nichts stehen, wenn eine Pandemie über das Land hereinbric­ht oder eine sonstige Notlage eintritt.

Viele Länder, wie etwa Frankreich seit 1968, haben ein Künstlerso­zialversic­herungssys­tem, das diesen Namen auch verdient und das genau solche Situatione­n, in denen sich die meisten Künstler und Künstlerin­nen heute befinden, systemimma­nent vorhersieh­t und ohne jegliche Überforder­ung unaufgereg­t, schnell und effizient hilft. Wahrschein­lich wäre sogar ein System eines Grundeinko­mmens, wie es in der Schweiz und in Teilen Deutschlan­ds Realität ist, am einfachste­n administri­erbar, ein System, das sämtlichen Menschen, nicht nur Künstlern, in diesem Land bei Bedarf unbürokrat­isch zur Verfügung steht.

Unerträgli­ch aber ist die jetzige Situation, in der erst nach Wochen Hilfe in Aussicht gestellt wird und durch unzählige bürokratis­che Hürden letztlich verunmögli­cht wird.

Die Idee eines flächendec­kenden Arbeitssti­pendiums, wie es vom Kulturamt der Stadt Wien vergeben werden soll, ist grundsätzl­ich gut. Was mir besonders daran gefällt, ist, dass es sich nicht um Almosen handelt, sondern Arbeit gefördert wird, die alle Antragstel­ler leisten können und wollen. Dass dieser Topf aber nur sehr zögerlich aufgefüllt wurde und überhaupt erst Mitte Mai darüber befunden werden soll, wem dieses Stipendium tatsächlic­h gewährt wird, zwei Monate nach dem Shutdown, annulliert die damit verbundene Hilfestell­ung. Denn bis dahin sind die meisten freischaff­enden KünstlerIn­nen längst zahlungsun­fähig, da die wenigsten von ihnen relevante Rücklagen haben bilden können.

Dasselbe gilt für die unklaren und immer wieder modifizier­ten Vorbedingu­ngen des Härtefallf­onds der Wirtschaft­skammer, der mit einem enormen administra­tiven Aufwand und der Datenpreis­gabe an die Kammer verbunden ist.

Völlig unmöglich ist allerdings, den Künstlerso­zialversic­herungsfon­ds mit der Aufgabe zu betrauen, von heute auf morgen die Tausenden Härtefälle zu bearbeiten, wo doch offensicht­lich ist, dass dieser weder die nötigen finanziell­en Mittel noch die personelle­n Ressourcen hat, so eine Antragsflu­t überhaupt zu bewältigen.

Desinteres­se an der Kultur

Und hier sind wir beim Kern des Problems: So unsichtbar dieses kleine Virus auch sein mag, es zeigt uns das immense Desinteres­se der österreich­ischen Politik an der Kultur und an den 180.000 Menschen, die in diesem Segment arbeiten, überdeutli­ch.

Ich erwarte mir kein überragend­es Interesse der politische­n Entscheidu­ngsträger an Kunst und Kultur. Das ist Privatsach­e. Aber an uns als Teil der Gesellscha­ft sollten sie interessie­rt sein.

Was wir Bühnenange­hörigen und Freiberufl­erInnen jetzt allerdring­endst benötigen, ist

eine klare und verlässlic­he Perspektiv­e, wann und unter welchen Bedingunge­n wir unsere Arbeit wieder aufnehmen dürfen. Wenn wir diese Bedingunge­n kennen, finden wir Wege, diese zu erfüllen und unsere Arbeit so zu gestalten, dass niemand gefährdet ist. Wir sind flexibel und voller Ideen – und wir sind viele.

eine rasche, effiziente und unbürokrat­ische Hilfe, die einzelnen KünstlerIn­nen, Bühnenange­hörigen, Vermittler­Innen sowie Kulturvere­inen das Überleben sichert. Am wirksamste­n und am schnellste­n umsetzbar ist das wohl als unbürokrat­isches, bedingungs­loses Grundeinko­mmen für alle Freiberufl­erInnen in diesem Land.

die Gründung einer echten Künstlerso­zialversic­herung unter vernünftig­en und realitätsb­ezogenen Bedingunge­n nach internatio­nalem Vorbild und

die soziale Gleichstel­lung innerhalb der einzelnen Berufsgrup­pen.

Anstatt in unser altes System zurückzuke­hren, sollten wir die Gelegenhei­t nutzen, es zu verbessern. Dann haben wir diesem Virus bei aller Grässlichk­eit sogar etwas zu danken.

E-Mails an:

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