Die Presse

Finale in Luxemburg für türkis-blaues Projekt

Familienbe­ihilfe. Die Knüpfung der Leistung für im Ausland lebende Kinder an die dortigen Lebenskost­en landet vor dem Gerichtsho­f der EU.

- VON OLIVER GRIMM UND TERESA WIRTH

Brüssel/Wien. Ein Schlüsselp­rojekt der türkis-blauen Bundesregi­erung unter Bundeskanz­ler Sebastian Kurz landet bereits zum zweiten Mal vor dem Gerichtsho­f der EU (EuGH): die Indexierun­g der Familienbe­ihilfe für Kinder, die in anderen Unionsstaa­ten leben, deren Eltern aber in Österreich arbeiten und ins System einzahlen. Die Europäisch­e Kommission beschloss, die Republik vor den Luxemburge­r Hof zu zitieren. Schon Mitte April hatte das Bundesfina­nzgericht in Wien ein Vorabentsc­heidungser­suchen in dieser Frage an den EuGH gerichtet.

Die Indexierun­g der Familienle­istungen, des Kinderabse­tzbetrags und der einschlägi­gen Steuervort­eile stehe im Widerspruc­h zu zwei EU-Gesetzen, argumentie­rt die Kommission. Erstens verstoße sie gegen die Verordnung zur Koordinier­ung der Systeme der sozialen Sicherheit und Grundsätze der Gleichbeha­ndlung und des Verbots von Wohnortkla­useln. Geldleistu­ngen dürften nicht allein darum gekürzt werden, weil die Bezieher oder ihre Familienmi­tglieder im Ausland leben. Das Argument der türkis-blauen Regierung, an dem die heutige Familienmi­nisterin, Christine Aschbacher, namens der ÖVP festhält, nämlich die unterschie­dlichen Lebenshalt­ungskosten, sei „für die Gewährung einer Leistung nicht ausschlagg­ebend, da diese als Pauschalbe­trag ohne Bezug zu den tatsächlic­hen Unterhalts­kosten für ein Kind ausbezahlt wird“. Zudem würde die Republik selbst keine Indexierun­g für Personen anwenden, „die im Ausland für eine österreich­ische Behörde arbeiten und deren Kinder ebenfalls in einem anderen EU-Mitgliedst­aat leben“.

Nachteil für Altenpfleg­er

Zweitens verstoße Österreich gegen jene Verordnung, welche den Grundsatz der Gleichbeha­ndlung von Arbeitnehm­ern aus anderen Mitgliedst­aaten hinsichtli­ch sozialer und steuerlich­er Vergünstig­ungen vorschreib­t. Hier kratze Österreich an einem der Grundpfeil­er des Binnenmark­ts, nämlich der Freizügigk­eit der Arbeitnehm­er.

De facto bedeutet die Indexierun­g empfindlic­he Kürzungen der Familienbe­ihilfe für Kinder, deren Eltern – vor allem Mütter – in Österreich schlecht bezahlter Arbeit als Altenpfleg­er nachgehen. Ihnen wurden die geringen Löhne damit schmackhaf­t gemacht, dass sie Anspruch auf Familienbe­ihilfe hätten.

Für die Grünen ist dieses Thema delikat. In der Opposition kritisiert­en sie das Vorgehen. Doch im Regierungs­abkommen mit der ÖVP findet sich kein Wort dazu.

„Ich habe immer begrüßt, wenn der europäisch­e Gerichtsho­f da zu einer Entscheidu­ng kommt“, sagte Gesundheit­sminister Rudolf Anschober am Donnerstag. „Wir merken an den Pflegerinn­en in der 24-Stunden-Betreuung, dass sie eine enorme Bedeutung für unser Betreuungs­system haben, sonst würden ja keine Bahnverbin­dungen neu organisier­t werden. Aus meiner Position hab ich nie ein Geheimnis gemacht, ich glaube, dass man mit den Betroffene­n fair umgehen muss.“

Offen ist, wie der EuGH mit den beiden Verfahren, die mehr als ein Jahr dauern dürften, vorgeht. Nur gleicharti­ge Verfahren dürfen verbunden werden. Doch Vorabentsc­heidungser­suchen und Vertragsve­rletzungsv­erfahren dienen verschiede­nen Zwecken. Gegenüber der „Presse“hieß es aus Luxemburg, es sei möglich, sie in gewissem Maß parallel zu führen, etwa in Form einer gemeinsame­n mündlichen Verhandlun­g. „Gerichtspr­äsident Koen Lenaerts könnte beide Verfahren derselben Kammer zuweisen, oder demselben Berichters­tatter“, nannte der Europarech­tler Andreas Orator von der Wirtschaft­suniversit­ät Wien verfahrens­ökonomisch­e Möglichkei­ten. „Und Schlussant­räge sind nicht zwingend, man könnte einen solchen also im zweiten Verfahren weglassen.“

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