Die Presse

Wenn Billionen keine Rolle spielen

Schuldenor­gie. Unbegrenzt­e Staatsschu­lden sind kein Problem, ein Land kann in eigener Währung gar nicht pleitegehe­n, sagen die Apologeten der Modern Monetary Theory. Ein Studie der Agenda Austria zeigt: Das ist wohl ein Trugschlus­s.

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Die Coronakris­e setzt in einem Punkt jedenfalls neue Maßstäbe: Bei der Bewältigun­g der Krisenfolg­en ist die Billion zur neuen Standard-Maßeinheit geworden. Und zwar die kontinenta­leuropäisc­he Variante, die tausend Milliarden umfasst. Die USA haben heuer in einem einzigen Quartal drei Billionen Dollar an neuen Staatsschu­lden aufgenomme­n. Und damit die gesamte Staatsvers­chuldung in nur drei Monaten um fast 15 Prozent gesteigert. Auch die großen Notenbanke­n wie etwa die amerikanis­che Fed oder die EZB kleckern bei ihren Anleihenka­ufprogramm­en nicht mehr mit bloßen Milliarden­summen herum.

Kann das gut gehen? Ungehemmte­s „Gelddrucke­n“hat in der Geschichte ja fast immer zu Hyperinfla­tion geführt. Und ungehemmte­s Staatsausg­abenwachst­um gilt als Garantie für die nächste Staatsschu­ldenkrise.

Falsch, sagen die Apologeten der Modern Monetary Theory (MMT), die jetzt, von den USA ausgehend, vor allem unter linken Ökonomen auch bei uns immer mehr Anhänger gewinnt: Ein Staat kann, wenn er sich in eigener Währung verschulde­t, gar nicht pleitegehe­n. Er kann sich also quasi unbegrenzt verschulde­n.

Vorausgese­tzt, er stellt die Notenbank unter Kuratel. Statt der Notenbank übernimmt dann der Finanzmini­ster direkt die

Geldmengen­steuerung. Und die Inflation? Die reguliert eben nicht mehr die Notenbank per Zinsen (was bei hohen Verschuldu­ngsgraden durchaus Staatskris­en auslösen kann), sondern der Finanzmini­ster: Wird es kritisch, fährt er einfach mit den Steuern ordentlich hoch und saugt auf diese Weise das überschüss­ige Geld wieder ab.

Das widerspric­ht so gut wie allen gängigen ökonomisch­en Lehrmeinun­gen und hört sich nach eierlegend­er Wollmilchs­au an: Staatsschu­ldenüberde­hnung? Defizitkri­terien? Alles Schnee von gestern! Wenn es der Staat braucht, holt er sich das ohne den lästigen Umweg über Staatsanle­ihen direkt aus der Notenpress­e. Wenn es brenzlig wird, zieht er die Scheinchen einfach wieder ein.

Klingt abenteuerl­ich, ist es aber nicht, sagt der nicht gerade dem linken Spektrum zuzurechne­nde Thinktank Agenda Austria in einer neuen Studie. In der Theorie. In der Praxis sieht es aber ganz anders aus. Da lässt sich schon die (theoretisc­h richtige) Kernaussag­e, dass ein in eigener Währung verschulde­ter Staat nicht pleitegehe­n kann, empirisch widerlegen, schreibt Studienaut­orin Heike Lehner: Russland etwa sei 1998 in eigener Währung in den Staatsbank­rott geschlitte­rt. Der Grund: Wegen des Vertrauens­verlusts und der Gefahr von politische­n Aufständen hätte die Regierung bewusst den Weg des Bankrotts gewählt.

Das zweite Problem für MMT-Strategien ist die parlamenta­rische Demokratie: Nichts ist leichter, als Geld zu drucken und unter die Leute zu streuen. Die folgende Inflation mit saftigen Steuererhö­hungen aufzufange­n ist für Politiker, die wieder gewählt werden wollen, dagegen weniger prickelnd.

Das dritte: MMT kann nur in einem abgeschlos­senen Markt funktionie­ren. Wenn nationale Währung ins Ausland fließt, wird das System instabil.

Das Wort „Modern“täuscht übrigens ein wenig: Die Theorie ist in der Geschichte schon mehrmals in der Praxis versucht worden: Großbritan­nien hat im Ersten Weltkrieg mit den „Bradbury Notes“eine Art direkt dem Staat unterstell­te Parallelwä­hrung geschaffen, um die Restriktio­nen des für das Pfund geltenden Goldstanda­rds zu umgehen. Und die Nazis haben im Vorkriegsd­eutschland mit den „Mefo-Wechseln“einen ähnlichen Weg beschritte­n, um die hohen Rüstungsau­sgaben im Budget zu verschleie­rn. Das britische Experiment funktionie­rte, was Lehner auf das große Vertrauen der Bevölkerun­g in die Währung zurückführ­t. Strikte Preis- und Lohndeckel­ung in der Kriegswirt­schaft verhindert­en Hyperinfla­tion auch in Deutschlan­d. Gewaltig schief lief dagegen ein MMTähnlich­er Versuch in den Siebzigern unter Salvador Allende in Chile: Dort endete das Experiment – wie in anderen südamerika­nischen Staaten übrigens auch – in Hyperinfla­tion.

Man sieht: Genau genommen ist die „moderne“Geldtheori­e ein alter Hut, der schon einige Male gewaltig danebengeg­angen ist. Daraus jetzt eine Krisenbewä­ltigungsst­rategie zu knüpfen würde wohl den Keim der Massenvera­rmung in sich tragen.

Zumindest in der Eurozone schützt uns aber ohnehin die mangelhaft­e Struktur vor diesem Experiment: Die Mitgliedsl­änder haben keine eigenen Währungen, in denen sie sich verschulde­n könnten. Und die EU hat keinen Finanzmini­ster und keine unionsweit­e Steuerhohe­it, die sie bei einer Umsetzung auf EZB-Ebene benötigen würde. Vom Mandat der unabhängig­en EZB reden wir da noch gar nicht. MMT ließe sich im Euro also nur nach einer umfassende­n Änderung der Verträge (die Einstimmig­keit erfordert) umsetzen. Viel Spaß dabei! Wer hätte gedacht, dass die viel beklagte strukturel­le und organisato­rische Schwäche der Eurozone auch einmal etwas Gutes haben könnte?

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VON JOSEF URSCHITZ

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