Gasthaus des Wirts, Wirtshaus der Gäste
Lokalgeschichte. Sie sinds wieder offen, die „Betriebsstätten der Gastgewerbe“. Aber wie öffentlich sind sie? Und wie absolut ist die wirtliche Macht? Eine Grat- und Schankwanderung.
Endlich sperren die Wirtshäuser wieder auf. Und die Gasthäuser. Ist das nicht das Gleiche? Eigentlich schon. Aber irgendwie auch wieder nicht. „Im Wirtshaus bin i wia z’haus“, sagt eine wienerische Weisheit. Das kann der Gast nicht sagen, rein wörtlich gesehen. Denn „Gast“kommt nicht von der Gastronomie, sondern von einem indoeuropäischen Wort für Fremdling, ist sogar mit dem lateinischen „hostis“, Feind, verwandt.
Wenn der Gast im Wirtshaus sitzt, dann sitzt er also als Fremder im Haus des Hausherrn, denn das Wort Wirt kommt vom germanischen Werdum, Hausherr. Das englische „host“spricht eine noch klarere Sprache: Die Etymologen leiten es von einem zusammengesetzten Hauptwort ab, das „Herr der Gäste“oder „Herr der Fremden“bedeutet. Man sieht ihn richtig vor sich, den Wirt, mit unzart gerötetem Gesicht, eine Schürze um den mächtigen Leib, die Hände in die Hüften gestemmt, mit dröhnender Stimme und drohendem Dativ eine Reklamation abschmetternd: „Das Gulasch passt schon, das hat noch einem jeden geschmeckt, das wird auch für Ihnen recht sein!“
Ja, so sahen sie aus, die Wirte, in der alten Zeit, erinnert von einem Kind der Siebzigerjahre. Damals verstand man in der Wiener Vorstadt unter einem Wirtshaus noch eine ziemlich plebejische Institution. Dort wurde schon am Vormittag getrunken, aus der Jukebox klangen schlechte Schlager, die nicht einmal im nostalgischen Rückblick cool sind, und es roch im besten Fall nach Bier, Gulasch, Putzmittel und A3-Zigaretten. Sodass eine Frau, wenn ein nicht standesgemäßer Mann ihr zu nahe kam, sagte: „Gehen Sie weg, Sie riechen nach Wirtshaus!“
Im Restaurant stand keine Maggiflasche
Wer in einigermaßen sittsamem und ruhigem Rahmen essen wollte, auf unbeflecktem Tisch, vielleicht sogar mit Stoffservietten, der mied das Wirtshaus und ging ins Gasthaus, oder gar ins Restaurant. Der Unterschied zwischen diesen beiden ist im Rückblick schwerer zu fassen. Vielleicht dadurch, dass im Gasthaus (noch) eine Maggiflasche, allenfalls substituiert durch einen AromatStreuer, auf dem Tisch stand. Aber es war etwas Besseres als das Wirtshaus.
Solche Distinktionen haben es an sich, dass sie in einer mobilen Gesellschaft nicht lang halten. Es ist wie mit der Gentrifizierung: Hipster entdecken ein Terrain, das noch nie hip war und gerade deshalb – und weil es billig ist – großes Hipness-Potenzial hat. Worauf es schnell teurer wird. So ging es auch mit dem Wiener Wirtshaus, im Volksmund Beisl genannt. Dieses Wort wurde schon in den Achtzigerjahren aufgewertet, während die alten Schilder (Wiener Küche/ Hauerweine/Bier vom Fass) verräumt wurden. Oder erst recht stehen bleiben durften.
Im Gegenzug bekam das Wort Gasthaus allmählich einen abschätzigen Klang. Man assoziierte es am ehesten mit Plastikplanen, die mittels Klemmen straff über den Tischtüchern gespannt waren: ärmlich, aber sauber. Bieder. Kleinbürgerlich. Von zweifelhafter Urbanität. Leicht peinlich.
Ziemlich peinlich: „Schmankerl“
Natürlich folgte in angemessenem zeitlichen Abstand die nächste Runde: Die aufgewerteten Wirtshäuser wurden peinlich, man lächelte über reich mit Adjektiven („herzhaft“, „pikant“, „g’schmackig“, „gepflegt“) bestückte Speisekarten von betonter Bodenständigkeit („Schmankerl“, „nach Großmutters Art“). Heute sind wir längst in der Postmoderne, und jeder sagt, was er will: Beisl, Gasthaus, Wirtshaus oder, in einem geradezu diplomatischen Kompromiss, Gastwirtschaft. Hauptsache offen.
Das ist ja nicht mehr selbstverständlich nach fast zwei Monaten des Verbots des „Betretens von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe“, verordnet am 15. März, am selben Tag, aber nicht in derselben Verordnung wie das Verbot des
„Betretens öffentlicher Orte“. Dieses umfasste jenes nicht, denn eine Betriebsstätte einer Betriebsart der Gastgewerbe ist kein öffentlicher Ort im juristischen Sinn.
Ist sie ein öffentlicher Ort im alltagssprachlichen Sinn? Ja und nein. Sie ist der Öffentlichkeit zugänglich – ein „public house“, sagt man auf Englisch, abgekürzt ein Pub –, aber sie kann einem verschlossen bleiben, wie jeder weiß, der je mit einem Lokalverbot belegt wurde. Sie ist ein Graubereich, ein Wirtshaus in dem Sinn, dass sie dem Wirt gehört oder wenigstens von ihm betrieben wird, ein Gasthaus in dem Sinn, dass sie ohne Gäste ihren Sinn verliert.
Was diesen ein gewisses Selbstbewusstsein verleihen mag, natürlich im Rahmen der gehörigen Demut gegenüber dem Wirt oder der Wirtin. Der/die den Gästen des Hauses nun auch in Österreich ihre Plätze zuweisen soll. Was er/sie hoffentlich mit Feingefühl tun wird. Das Wirts-, das Gast-, das Wirtshaus: Es ist ein heikles Terrain.