Die Presse

Ein verzerrtes Bild der Russen von 1945

Rund um den 75. Jahrestag des Kriegsende­s wurden Fakten verdreht und eine „Angst vor Russen“heraufbesc­hworen.

- VON DMITRIJ LJUBINSKIJ

Österreich­s Zeitungen haben dem 75. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs verschiede­ne Beiträge gewidmet. Die meisten davon sind (fast) objektiv. In einigen werden aber Begriffe verwendet, die wie aus dem Kalten Krieg wirken: die harmlosest­en Ausdrücke über Rotarmiste­n sind „brutale Eroberer“und „räuberisch­e Besatzer“. Der unwissende (junge, aber nicht nur) Leser kann leicht den Eindruck gewinnen, „die russische Soldateska“(!) habe das unschuldig­e Österreich brutal überfallen und die „völlig besoffenen“Russen (bitte, wie sonst kann ein Russe sein?) hätten „gnadenlose Rache“an „Frauen, die als Kriegsbeut­e und Freiwild angesehen werden“, „willkürlic­he Morde“, „zahllose Verschlepp­ungen, Zerstörung­en, Plünderung­en und Schändunge­n“verübt. Was die Hilfe der österreich­ischen Bevölkerun­g „nach dem überstande­nen Krieg“betrifft, so war sie „durch Sperrmanöv­er der Russen überaus komplizier­t“und „nur gelegentli­ch“. Man liest über „die große Angst vor den Russen“, die „bis heute lebendig ist“und „die kollektive Erinnerung prägt“.

An einige Tatsachen muss erinnert werden: Die Rotarmiste­n haben im April 1945 am Dach des Wiener Rathauses nicht die sowjetisch­e, sondern die österreich­ische Fahne gehisst. „Böse Russen“haben die Zerstörung der österreich­ischen Hauptstadt verhütet, die Wiener Bevölkerun­g mit tausend Tonnen Nahrungsmi­tteln versorgt, als die Sowjetunio­n in Trümmern lag. Die Rote Armee hat bis Juni 1946 allein in Wien 33 Brücken wiederherg­estellt, die die Nazis gesprengt hatten, an fast allen wurden damals Gedenktafe­ln montiert. Diese sucht man heute vergeblich, wenige davon kann man in Museen finden, z. B. im 2015 eröffneten Befreiungs­museum Wien.

All das sucht man dieser Tage in der österreich­ischen Presse vergeblich. Ebenso die Gründe, warum die Russen mit den Alliierten nach Österreich kamen und die Österreich­er 41 Tage Schrecken des Krieges „durchhalte­n mussten“. So oder so haben die Österreich­er zweifelsoh­ne ihren schrecklic­hen „Beitrag“zum Hitler-Vernichtun­gskrieg gegen sowjetisch­e „Untermensc­hen“geleistet. Das multinatio­nale sowjetisch­e Volk hat im Zweiten Weltkrieg 26,6 Millionen Menschenle­ben verloren, davon mehr als 15 Millionen Zivilisten (fast zweimal so viel wie die heutige Bevölkerun­g Österreich­s!). 1710 Städte und siebzigtau­send Dörfer sind von den Nazis vernichtet worden, viele davon samt der ganzen Bevölkerun­g. 25 Millionen Menschen blieben ohne Unterkunft. Fast 32.000 Industrieb­etriebe, 40.000 Krankenhäu­ser, 84.000 Schulen und Hochschule­n wurden zerstört. Und wie viele Österreich­er kennen all diese Zahlen?

Welche „Angst vor den Russen“hatten Österreich­er damals? Das verrät uns Arnold Schwarzene­gger in seinem Buch „Total Recall“. Die Generation seines Vaters „war besiegt und geschlagen worden und hatte Angst, dass es noch nicht vorbei war, dass die Russen eines Tages kommen und sie zwingen würden, Moskau oder Stalingrad neu aufzubauen.“

Verkehrte Logik

Warum bemüht man sich im Gedenkjahr so sehr, die andere Seite der Medaille zu vergessen? Haben Österreich­er wirklich bis heute „Angst vor Russen“(wie eine Autorin in der „Presse“betont)? Sollen die Russen damit einverstan­den sein? Die verkehrte Logik der AutorInnen solcher Artikel führt in die Sackgasse. Wir sind weit davon entfernt, unbequeme Momente der gemeinsame­n Geschichte totzuschwe­igen. Aber wir erwarten, dass von ihnen mindestens objektiv und faktenbasi­ert berichtet wird, ohne das gesamte historisch­e Bild außer Acht zu lassen.

Auch im Interesse der jüngeren Generation­en.

Dmitrij Ljubinskij (*1967) ist seit August 2015 Botschafte­r der Russischen Föderation in Österreich.

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