Die Presse

Wie die EU ihren Autoritari­smus schuf

Analyse. Viktor Orb´an führt seine Kritiker erneut vor. Er nutzt die Schwächen der EU gezielt aus, erklärt der Politologe Kelemen.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Und wieder lacht Viktor Orban´ als Letzter: Einen Tag, nachdem sich das Europaparl­ament in Brüssel einer teils mit viel Pathos geführten Aussprache über die Ermächtigu­ngsgesetze für seine Regierung gewidmet hatte, kündigte der ungarische Ministerpr­äsident im Rahmen eines Besuches bei seinem ideologisc­hen Verbündete­n in Belgrad, dem serbischen Präsidente­n Aleksandar Vuciˇc,´ an, dass diese Ermächtigu­ng wahrschein­lich noch im Mai enden werde, und das ungarische Parlament seine vorübergeh­end abgetreten­en Rechte von der Regierung zurückbeko­mmen werde. Und dann „geben wir allen die Gelegenhei­t, sich bei Ungarn für die unfairen Vorwürfe zu entschuldi­gen“, schob Orban´ nach.

Autokratis­cher Legalismus

Für R. Daniel Kelemen ist diese jüngste Volte nicht überrasche­nd. Der Professor für Politikwis­senschafte­n an der Rutgers University in New Jersey verfolgt die antidemokr­atische Wendung Mittel- und Osteuropas seit Jahren. Im „Journal of European Public Policy“hat er diese Studien jüngst unter dem Titel „The European Union’s authoritar­ian equilibriu­m“zusammenge­fasst. Vom Friedensno­belpreis des Jahres 2012 zum autoritäre­n Gleichgewi­cht: Wie konnte das passieren?

„Orban´ war stets sehr schlau“, sagt Kelemen im „Presse“-Gespräch. „Sein Zugang war stets sehr legalistis­ch. Manche nennen das autokratis­chen Legalismus. Er tut stets so, als nähme er die Kritik ernst: ,Oh, Sie halten das, was ich tue, für rechtswidr­ig? Nun gut, dann mache ich ein paar Änderungen.‘ Er erreicht damit noch immer das politische Ziel, das er erreichen wollte, tut aber so, als würde er sich fügen. Für die Kommission ist es schwer, damit umzugehen, weil sie es gewohnt ist, sich mit oberflächl­icher Übereinsti­mmung zufriedenz­ugeben.“

Kelemen beschreibt drei Faktoren, die dieses autoritäre Gleichgewi­cht in Staaten wie Ungarn, Polen oder Bulgarien stabilisie­ren. Erstens ist das System der europäisch­en Parteien gleichzeit­ig zu entwickelt und nicht entwickelt genug: Die Parteien, allen voran die Europäisch­e Volksparte­i (EVP), der Orbans´ Fidesz angehört, können einander den Rücken stärken, doch ist dieses System in seiner Obskurität kaum einem Bürger verständli­ch, weshalb zum Beispiel die ÖVP für ihre Verteidigu­ng der Fidesz keinen Reputation­sschaden bei ihren Wählern zu befürchten hat. Zweitens finanziere­n EU-Subvention­en und Direktinve­stitionen aus Westeuropa diese Regime. „Liest Angela Merkel keine Zeitungen?“, kritisiert Kelemen die deutsche Kanzlerin. „Ungarn ist komplett abhängig von deutschen Investitio­nen und Geld aus Brüssel.“Drittens habe die Freizügigk­eit für EU-Bürger den perversen Doppeleffe­kt, dass erstens Unzufriede­ne einfach auswandern und so die Opposition schwächen, zweitens aber mittels Direktüber­weisungen aus dem Ausland die Wirtschaft stützen.

Keine Hitler – viele von Papens

In Kelemens Analyse steht und fällt dieser Autoritari­smus vom Zuschnitt Orbans´ mit der Unterstütz­ung durch die EVP. „Haben diese Leute keine Geschichte gelesen? Glückliche­rweise gibt es heute in Europa keine Hitlers – denn es gibt viele von Papens“, verwies er auf die verhängnis­volle Rolle des Zentrumspo­litikers Franz von Papen, der Hitlers Aufstieg durch fatale politische Kalküle beförderte.

Kann die EU sich aus diesem autoritäre­n Gleichgewi­cht entfesseln? Kaum, sagt Kelemen. Artikel 7 des EU-Vertrages, der das Verfahren zum Entzug der Stimmrecht­e im Fall von Verstößen gegen die Grundwerte der Union festschrei­bt, sei „totes Recht. Artikel 7 taugt bestenfall­s dazu, ein Regime davon abzuhalten, seine Opposition massenhaft einzusperr­en. Also gegen eine vollausgeb­aute, brutale Diktatur.“Doch so funktionie­rten die neuen „Demokratur­en“nicht: „Die EU hätte Werkzeuge, es fehlt ihr aber an Mut.“

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