Die neue Fußballkultur
Jubelgesten. In der deutschen Bundesliga fallen wieder Tore, doch wie werden sie gefeiert? Die Kontaktminimierung spornt zu neuen Posen an, dem Teamgefühl aber raubt sie Symbolik.
Wien. Er ist ganz individuell und zugleich doch elementarer Bestandteil eines jeden Fußballspiels: der Torjubel. Die klassisch hochgerissenen Arme (Dorfplatz bis WM-Finale), die stilisierten Posen der Stars (Ronaldos Sprung und Messis Fingerzeig) – und jener, die sich für solche halten –, bis hin zu einstudierten Teamchoreografien (die US-Frauen demonstrierten ihr Repertoire beim 13:0-WM-Rekordsieg gegen Thailand). Das 0:0 ist zwar theoretisch immer eine Möglichkeit, doch keine, die man als geneigter Fan des Ballsports sehen will.
Fällt deshalb ein Tor, wird zumindest von einer Seite (fast) immer gejubelt. Erst lässt der Schütze seinen Emotionen, in welcher Form auch immer, freien Lauf, dann wird umarmt, abgeklatscht, aufeinander gesprungen und umgerissen. Zumindest in Zeiten vor dem Coronavirus. Wenn die deutsche Bundesliga heute (ab 15.30 Uhr, Konferenz frei auf Sky) ihren Ligabetrieb wiederaufnimmt, werden nicht nur die Zuschauer auf den Rängen fehlen, sondern auch diese Gesten auf dem Rasen. Zumindest verweist die DFL im Regelkatalog darauf, Gruppenbildungen zu unterlassen und den Torerfolg stattdessen mit kurzem Ellenbogen- oder Fußkontakt zu feiern.
Unbewusste Rituale
Ziegenbart, Schnuller, Roboter, Schuhputzer, Samba- bis „Fortnite“-Tänzchen. Der Torjubel im Fußball hat schon viele Inszenierungen gesehen, nun dürften kreative Choreos ohne Handberührungen also im Kurs steigen. In den Fokus rücken allerdings auch die unbewussten und bislang unbedachten Abläufe: Die auf ein Tor folgende Gruppenbildung ist schließlich ein seit Jugendauswahlen erprobtes Ritual, das den Emotionen des Schützen einen Rahmen gibt und in dem sich das WirGefühl der Mannschaft besonders deutlich manifestiert. Nicht ohne Grund wird genau beäugt, wer bei solchen Spielertrauben abseits bleibt. Es ist eine anerkannte Symbolik, die nun ebenso prompt verschwinden soll wie das Händeschütteln im restlichen Alltag. Und das vermissen manche gar nicht mehr.
Am Stammtisch lässt sich über die dem zugrunde liegende Gesetzgebung trefflich diskutieren: Dürfen die Spiele nicht gerade wegen der Annahme stattfinden, dass die Gesundheit aller Beteiligten nachgewiesen und der Handschlag damit unbedenklich ist? Wie ist ein Abklatschen im Vergleich zum üblichen Schwitzkasten bei Standards oder dem gemeinsamen Zu-Boden-Gehen im Zweikampf einzuschätzen, wie eine Umarmung? Hat ein Torwart ob seiner Handschuhe eigentlich mehr Freiheiten? Die deutschen Unparteiischen haben jedenfalls bereits angekündigt, derartige „Coronaverstöße“nicht zu ahnden. Es bleibt die Eigenverantwortung der Profi-Fußballer, die durch das Kabinenvideo von Herthas Salomon Kalou oder dem verbotenen Lask-Mannschaftstraining (siehe links) schon leidgeprüft ist.
Regeln ohne Treffsicherheit
Dabei ist es nicht das erste Mal, dass in den Jubelprozess auf dem Fußballfeld eingegriffen wird. Seit 1996 kennt das offizielle Regelwerk des zuständigen International Football Association Board unter Punkt 12 („Fouls und unsportliches Betragen“) eine Gelbe Karte für das Ausziehen des Trikots, inzwischen werden auch das Kopfbedecken mit Stoff oder Maske, Auf-den-Zaun-Klettern und provozierende, höhnische und aufhetzende Gesten verwarnt – übrigens auch, wenn der Treffer neuerdings durch den Videobeweis nachträglich aberkannt wird. „Choreografierte Jubelszenen werden aber nicht gefördert und dürfen zu keiner übermäßigen Zeitverzögerung führen“, heißt es darin. Die Einberechnung in die Nachspielzeit sorgt bei Fans und Spielern immer wieder für Diskussionen, die Fifa wollte damit vorrangig politischen Botschaften und Fremdwerbung einen Riegel vorschieben. Das gilt nur bedingt, wie der türkische Militärgrußjubel im vergangenen Herbst demonstriert hat: keine Karten, das Ergebnis des Disziplinarverfahrens ist ausständig.
Die deutsche Bundesliga wird einen Vorgeschmack darauf geben, auf welche Rituale es beim Torjubel ankommt oder eben nicht. In Österreich wird ab 29. Mai wieder auf dem Fußballplatz gefeiert, vielleicht mit Babyelefanten.