Die Presse

Israel und die Kolonialis­muskritik

Analyse. Warum hat der Postkoloni­alismus so ein Problem mit Israel? Über die Verklärung jüdischer Diaspora, die globale Opfergemei­nschaft und das Bild Israels als Verräter.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Relativier­ung des Holocaust, Delegitimi­erung Israels, antisemiti­sche Aussagen: Seit den Vorwürfen eines Abgeordnet­en und des Antisemiti­smusbeauft­ragten in Deutschlan­d gegen den 62-jährigen kamerunisc­hen Historiker Achille Mbembe, der heuer die Ruhrtrienn­ale eröffnen hätte sollen, kommt die Debatte nicht zur Ruhe. Doch längst ist aus dem Streit um seine Person auch ein Streit um die akademisch so einflussre­iche Denkschule und Forschungs­disziplin geworden, zu deren bekanntest­en Theoretike­rn er zählt.

Wie hält der Postkoloni­alismus es mit Israel? Die Frage begleitet die Entwicklun­g dieser Disziplin schon, seit der US-amerikanis­che Literaturw­issenschaf­tler Edward Said mit seinem Buch „Orientalis­mus“1978 die Grundlagen der „postcoloni­al studies“schuf. Mit Orientalis­mus meinte er die Bilder, die sich Angehörige der Kolonialmä­chte von den kolonialis­ierten Kulturen machten; Said deutete sie als Herrschaft­sinstrumen­t. Damit wies er Generation­en postkoloni­alistische­r Forscher den Weg.

Gegen Orientalis­mus, für Palästinen­ser

Nicht unbedingt einen, den er selbst so gewollt hätte. Zwar wurde Said dem eigenen Anspruch auf Differenzi­erung und Realitätsn­ähe nicht immer gerecht, dennoch: Er betonte, dass er essenziali­stische Vorstellun­gen vom „Westen“für so falsch hielt wie solche vom „Orient“(beides waren für ihn „supreme fictions“): Dennoch wurde in den „postcoloni­al studies“der „Westen“zunehmend zum Inbegriff andauernde­r Unterdrück­ung. Said kritisiert­e in seinem Vorwort zur Neuauflage 2003 „die vereinfach­enden Formeln und das abstrakte Denken, das den Geist von konkreter Geschichte und Erfahrung in den Bereich ideologisc­her Fiktion wegzieht“. Den akademisch­en Mainstream des Postkoloni­alismus freilich drängte es genau in diese Richtung. Pochte Said noch aufkläreri­sch auf die Möglichkei­t eines Wissens, das nicht nur Konstrukt und Machtinstr­ument sei, machte zunehmend die These Karriere, dass der Versuch zu verstehen allein schon ein kolonialer Übergriff sei.

Said engagierte sich aber auch politisch – seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967. Selbst aus einer palästinen­sischen christlich­en Familie kommend, spielte dieser berühmte Hochschulp­rofessor in den USA eine entscheide­nde mediale Rolle als Anwalt der Palästinen­ser. Er trat für eine Ein-Staaten-Lösung ein und gegen jede Form von Gewalt auf, gründete mit dem israelisch­en Dirigenten Daniel Barenboim das „West Eastern Divan Orchestra“. Doch die Verbindung von postkoloni­alem Denken und politische­m Einsatz für die Palästinen­ser – deren Schicksal Said auch als eine Form von Kolonialis­ierung deutete – blieb nicht ohne Wirkung.

Kampf für die „Verdammten der Erde“

Zugleich spielten die Juden als Opfer des Holocaust sowie das moderne Israel bereits unter den Vordenkern der Entkolonia­lisierung eine Rolle. 1982, vier Jahre nach dem Erscheinen von Saids Buch „Orientalis­mus“, begann der 1957 in Kamerun geborene Achille Mbembe in Paris zu studieren. Wie Said, dessen Kollege er später an der Columbia University werden sollte, beeinfluss­ten ihn Michael Foucaults Thesen über den Zusammenha­ng von Wissen und Macht. Doch am stärksten prägte ihn der französisc­he Psychiater und Autor Frantz Fanon. Wie vielen marxistisc­h geprägten Entkolonia­lisierungs­theoretike­rn ging es diesem um eine weltweite Gemeinscha­ft der Opfer, der „Verdammten der Erde“– gegen jede Form von westlichem Kolonialis­mus.

Opfer mit Sonderstat­us (zumal nicht durch Kolonialpo­litik zu Schaden gekommene) fügten sich nur unbequem in die Theorie. So wurden „die Juden“zwar als beispielha­fte Opfer anerkannt, zugleich aber in Analogien zu Kolonialis­ierungsopf­ern gepresst. Bis hin zur These, dass Gewalt in den Kolonien den Genozid in Europa vorbereite­t hätte. Einerseits tendieren postkoloni­ale Theorien also dazu, dem Holocaust seine Sonderstel­lung zu entziehen – anderersei­ts weisen sie Israel einen Sonderstat­us zu. Untrennbar ist in ihnen das Übel Kolonialis­mus mit Imperialis­mus, Kapitalism­us, Nationalst­aat und technische­r Moderne verbunden. Israel aber wurde und wird als modernes Paradeproj­ekt dafür gesehen.

Paradoxerw­eise spielen dabei nicht nur linker Antiamerik­anismus und Synergien von Kolonialis­muskritik und muslimisch­er

Rebellion gegen „den Westen“eine Rolle, sondern auch das positive Bild der jüdischen Diaspora: Es wird in vielen postkoloni­alen Texten, auch bei Mbembe, zum Vorbild „hybrider Identitäte­n“stilisiert. Dadurch erscheinen die Juden gleich zweifach als Verräter an der guten Sache: erstens durch ihr „nationales Projekt“, zweitens indem sie (Kritikern zufolge) durch ihre Politik von der Opfer- auf die Täterseite wechselten.

Und noch eines trägt zum manichäisc­hen Gut-Böse-Denken des Postkoloni­alismus bei: Fixiert darauf, Muster in „kulturelle­n Diskursen“aufzuspüre­n, vernachläs­sigt er deren Bezugspunk­t, die historisch­e und politische Realität. Auch deswegen verträgt er sich mit politische­m Aktivismus besser als mit historisch­er und politische­r Detailarbe­it. Was Kritiker Antisemiti­smus nennen, ist daher oft – etwa im Fall Achille Mbembes – schlicht Dilettanti­smus. Auch der kann natürlich gefährlich sein.

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[ EPA ] Prägte den Begriff Orientalis­mus: Edward Said.

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