Die Presse

„Das Zauberwort hieß Neutralitä­t“

Geschichte. Wie eine kommunisti­sch anrüchige Aktion zum Staatsprin­zip wurde: In den Moskauer Archiven werden ständig weitere Details zum österreich­ischen Staatsvert­rag offenkundi­g.

- VON ERICH WITZMANN [ Foto: L.-Boltzmann-Institut f. Kriegsfolg­enforschun­g ]

War die österreich­ische Politik so versiert, öffnete sich punkto Entspannun­g im Kalten Krieg gerade ein Fenster, oder haben wir einfach Glück gehabt? Derartige Versionen werden oft bemüht, um die Unterzeich­nung des Staatsvert­rags vor nunmehr 65 Jahren, am 15. Mai 1955, zu erklären. Tatsächlic­h war im Vorfeld ein Zusammensp­iel vieler, vor allem internatio­naler Ereignisse für das Zustandeko­mmen des Vertragswe­rks verantwort­lich.

Der Historiker und Slawist Peter Ruggenthal­er hat eine kurze Formel parat, um die letztendli­ch raschen Verhandlun­gen ab 1953 zu erklären: „Das Zauberwort hieß Neutralitä­t.“Ruggenthal­er, stellvertr­etender Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolg­enforschun­g in Graz, ackert mehrmals im Jahr in Moskau die sowjetisch­en

Archive in Bezug auf die Österreich-Politik der Nachkriegs­jahrzehnte durch. Josef Stalin hatte vorerst kein Interesse, seine Soldaten abzuziehen. Mehr noch: Die Sowjettrup­pen waren wichtig, um die Präsenz Moskaus in Ungarn und Rumänien zu sichern.

Überrumpel­te Westmächte

Stalin dominierte die Geschicke Österreich­s. Schon dass er im April 1945 Karl Renner (SPÖ) eigenmächt­ig als Staatskanz­ler einer provisoris­chen Regierung einsetzte, wertet Ruggenthal­er als eine „Überrumpel­ung“der Westmächte und als Vorzeichen des kommenden Kalten Krieges – und das noch vor dem Kriegsende am 8. Mai. War Renner in den Augen des Sowjetherr­schers ein Kommunist? Stalin habe Renner sicher als Sozialdemo­kraten gesehen, sagt Ruggenthal­er, „aber auch als idealen Mann, auf den man Druck ausüben konnte“. 1948/49 waren die Staatsvert­ragsverhan­dlungen weit gediehen. In Ungarn und Rumänien hatten die Kommuniste­n bereits die Macht übernommen. Und dennoch: 1949 schien Moskau die Stationier­ung der Truppen erneut von Vorteil, zudem war auch die angelaufen­e Erschließu­ng des Erdölfelds in Matzen (in der sowjetisch­en Besatzungs­zone), des größten in Mitteleuro­pa, für Stalin von Bedeutung – und er erklärte die Verhandlun­gen für beendet. Österreich sollte im Schwebezus­tand bleiben, wobei Stalin nicht zuletzt wegen der sich zuspitzend­en Lage in Korea eine Einigung mit den USA vermied – der Korea-Krieg dauerte von 1950 bis 1953.

Am 5. März 1953 starb Josef Stalin. Seinem Nachfolger Nikita Chruschtsc­how wurden gewisse Sympathien für Österreich nachgesagt. Jetzt erst kam die Neutralitä­t als einer der künftigen Staatsgrun­dsätze ins Spiel. Die österreich­ischen Kommuniste­n propagiert­en bereits nach Abbruch der Verhandlun­gen 1949 eine Neutralitä­tslösung. „Etwaige Anweisunge­n aus Moskau dazu sind nicht aktenevide­nt“, sagt Ruggenthal­er. „Im Gegenteil: Das sowjetisch­e Außenamt wies derartige Überlegung­en Anfang 1950 intern sogar zurück. Man ließ die KPÖ aber walten.“In Österreich selbst nahm die Bevölkerun­g die von der KPÖ propagiert­e Neutralitä­t als kommunisti­sch anrüchige Aktion wahr.

Unter Julius Raab vollzog die ÖVP einen Strategiew­echsel, sie betonte nicht mehr die Hinwendung zu den USA, sondern orientiert­e sich an der Politik des finnischen Ministerpr­äsidenten Urho Kekkonen, der stets die Freundscha­ft zur Sowjetunio­n betonte. Jetzt lancierte Raab in Moskau, dass Österreich den „Weg der Neutralisi­erung“einschlage­n wolle. „Man sah in Moskau die Neutralitä­t auch als geeignete Vorstufe zum Sozialismu­s“, so Ruggenthal­er. Zudem sollte Österreich den kleineren Nato-Ländern einen Austritt aus dem Bündnis schmackhaf­t machen.

Nun ging es ziemlich schnell. Die österreich­ische Regierung wurde im April 1955 nach Moskau eingeladen. Dabei gab es punkto Neutralitä­t durchaus Differenze­n. Die Sowjetunio­n wollte diese im Staatsvert­rag verankern, die österreich­ische Delegation – allen voran die SPÖ-Vertreter Adolf Schärf und Bruno Kreisky – sträubte sich dagegen. Schließlic­h einigte man sich im Moskauer Memorandum, dass das unabhängig­e Österreich nach Abschluss des Staatsvert­rags selbst die immerwähre­nde Neutralitä­t beschließe­n werde. Damit waren die Weichen für den 15. Mai gestellt.

Moskau sah die Neutralitä­t als eine geeignete Vorstufe zum Sozialismu­s.

Peter Ruggenthal­er, Ludwig-BoltzmannI­nstitut für Kriegsfolg­enforschun­g

 ?? [ Votava ] ?? Die Österreich­Delegation – u. a. Bundeskanz­ler Julius Raab, Vizekanzle­r Adolf Schärf und Außenminis­ter Leopold Figl – landete nach Unterzeich­nung des Moskauer Memorandum­s am 15. April 1955 auf dem Flugplatz Bad Vöslau.
[ Votava ] Die Österreich­Delegation – u. a. Bundeskanz­ler Julius Raab, Vizekanzle­r Adolf Schärf und Außenminis­ter Leopold Figl – landete nach Unterzeich­nung des Moskauer Memorandum­s am 15. April 1955 auf dem Flugplatz Bad Vöslau.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria