Wie man Gedenken austariert
Fünfundsiebzig Jahre nach 1945 setzt sich Österreich intensiv mit Kriegsende, Befreiung von der NS-Herrschaft und Republikgründung auseinander. Der ORF gestaltete einen Zeitgeschichteschwerpunkt mit insgesamt 110 Stunden Programm, das Haus der Geschichte Österreich eröffnete mit virtuellen Ausstellungen neue Perspektiven auf 1945, die Printmedien berichteten über die Kampfhandlungen in Ostösterreich und den beispiellosen Terror nach innen, den das untergehende nationalsozialistische Regime noch in den letzten Kriegstagen entfesselte. Insgesamt haben die Gedenktage gezeigt, dass das Jahr 1945 in der staatlich-offiziellen wie auch in der öffentlich-medialen Gedenkkultur Österreichs nachhaltig verankert ist. Das ist keineswegs selbstverständlich, denn es handelt sich um ein relativ neues Phänomen. Die Republik konnte in den Nachkriegsjahrzehnten mit 1945 nur wenig anfangen.
Der 8. Mai gilt in den meisten europäischen Ländern – seit der berühmten Weizsäcker-Rede 1985 auch in der Bundesrepublik Deutschland – als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. In Österreich war dieses Datum bis vor wenigen Jahren kaum präsent, das offizielle Gedenken bezog sich auf den 27. April 1945, an dem die provisorische Regierung unter Karl Renner die Unabhängigkeit vom Deutschen Reich erklärte und die Republik Österreich wiederbegründete, und auf den 15. Mai 1955, den Tag der Unterzeichnung des Staatsvertrags.
Obwohl der 27. April 1945 das Ende des NS-Terrors und die Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaat markiert, blieb er ein blasser Gedenktag. Hingegen etablierte sich der 15. Mai 1955, die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität, als eigentliches symbolisches Gründungsereignis der Zweiten Republik – nicht zuletzt durch die emotional aufgeladene zeitgenössische Berichterstattung in der „Austria Wochenschau“. Die Präsentation des Vertrags vom Balkon des Oberen Belvedere, unterlegt mit der Tonspur von Leopold Figls „Österreich ist frei“, eigentlich im Marmorsaal des Schlosses nach Vertragsunterzeichnung ausgesprochen, wurde zur Ikone des neuen Österreich. Die legendäre Balkonszene repräsentiert bis heute wie kein anderer Gedächtnisort die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik.
Die Verknüpfung von „Freiheit“mit „Staatsvertrag“, die zu allen runden Jahrestagen medial ausgiebig reproduziert wurde, hat sich tief in das Geschichtsbewusstsein eingeprägt. Das zeigt das Ergebnis einer Meinungsumfrage im Jahr 1998. Auf die Frage, auf welches Ereignis der Vergangenheit man besonders stolz sein könne, nannten 20 Prozent der Befragten den Staatsvertrag – das weitaus am besten bewertete zeitgeschichtliche Ereignis. Die Wiederbegründung der Republik im Jahr 1945 wurde nur von einem Prozent der Befragten genannt – der schlechteste Wert in dieser Umfrage.
Die Marginalisierung von 1945 ist das Ergebnis der widersprüchlichen österreichischen Geschichtspolitik. Nur in den ersten Nachkriegsjahren standen – ganz im Sinn der Unabhängigkeitserklärung – die Befreiung von der NS-Herrschaft und die Würdigung des Widerstands im Vordergrund. Mit Beginn des Kalten Krieges und der Amnestie und Re-Integration ehemaliger Nationalsozialisten kam die Wende: Antifaschismus wurde durch Antikommunismus ersetzt.
Das lässt sich auch an gescheiterten Denkmalprojekten ablesen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit geplante Denkmäler für den Widerstand in Wien, Graz und anderen Städten wurden nicht realisiert. Der Widerstand galt Ende der 1940er als kommunistisch und die ihm gewidmeten Denkmäler als Instrumente kommunistischer Propaganda. „Befreiung“wurde zu einem Begriff, der nur im Umfeld der Kommunistischen Partei und der Verbände der ehemaligen politischen Häftlinge ohne Anführungszeichen verwendet wurde – die Befreier wurden zu Besatzern.
Der zehn Jahre nach Kriegsende erlangte Staatsvertrag eröffnete die günstige Gelegenheit, „1945“durch „1955“zu überschreiben.
HEIDEMARIE
UHL
Geboren 1956 in Feldbach, Steiermark. Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Graz. Mag. Dr. phil. Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaften und
Das potenziell konfliktträchtige Gedenken an das Ende von Krieg und Nationalsozialismus konnte so erfolgreich umschifft werden. Der österreichische Sonderweg zeigt sich zu den runden Jahrestagen. Während die europäischen Länder das Kriegsende respektive den Sieg über den Nationalsozialismus feierten, während die Bundesrepublik Deutschland sich am Tag der Kapitulation mit ihrer belasteten Vergangenheit auseinandersetzte, feierte Österreich seinen – nicht zuletzt durch (angebliche) Trinkfestigkeit errungenen – diplomatischen Sieg über die Besatzungsmächte, so die wirkungsmächtige Legende. Der Staatsvertrag sei das Ende eines „17 Jahre lang dauernden, dornenvollen Wegs der Unfreiheit“, erklärte Außenminister Figl 1955.
In der Gleichsetzung der NS-Herrschaft 1938 bis 1945 mit der Besatzungszeit 1945 bis 1955 bedeutete 1945 keine Zäsur, keine Befreiung. Im Gegenteil: 1945 erscheint aus dieser Perspektive als dunkle Zeit des Leidens unter den Auswirkungen des Krieges, geprägt von Lebensmittelknappheit und Übergriffen vor allem der sowjetischen Soldaten auf die Zivilbevölkerung. Vermittelt wurde dieses Geschichtsbild bis in die jüngste Vergangenheit, zum Teil bis heute, in Schulbüchern, Regionalgeschichten, Ortschroniken, Museen und Ausstellungen, in TV- und Zeitungsreportagen. Der entsprechende Bilderkanon zeigt Bombenschäden, Alltagsleben in Ruinen, Trümmerfrauen und Heimkehrer. Zur Ikone des Jahres 1945 wurde der ausgebrannte Stephansdom, vielfach – zu Unrecht – als bombenzerstört angesehen. Tatsächlich wurde der Brand durch Funkenflug von umliegenden Häusern entfacht, die von plündernden Wienern in Brand gesetzt worden waren.
Die Opfererzählung über 1945 stand im Gegensatz zum offiziellen Geschichtsbild von Österreich als „erstem Opfer“des Nationalsozialismus 1938. Die offizielle Argumentation diente jedoch vor allem der außenpolitischen Selbstdarstellung. In Österreich selbst war hingegen die mit 1945 verbundene und eindeutig dazu im Widerspruch stehende Opfererzählung hegemonial: Die Österreicherinnen und Österreicher wurden nicht Opfer des Nationalsozialismus, sondern Opfer des Krieges gegen den Nationalsozialismus – zivile und militärische Opfer, Opfer des Bombenkrieges, Opfer von Vergewaltigungen. Ein Blick auf die lokale Denkmallandschaft zeigt die Wirkungsmacht dieses Narrativs. Kriegerdenkmäler, die die gefallenen Wehrmachtssoldaten als „Helden“und „Verteidiger der Heimat“ehren, das „Heldengedenken“zu Allerseelen, getragen von Kirche und Kameradschaftsbund, wurden Bestandteil der lokalen Folklore. Denkmäler für politisch Verfolgte waren seit Ende der 1940er-Jahre hingegen kaum noch durchsetzbar. Das Gedenken an die mehr als 66.000 jüdischen Österreicher, die der Shoah zum Opfer fielen, sollte noch bis in die 1980er Leerstelle bleiben.
Der 15. Mai wurde nicht zum Nationalfeiertag bestimmt, da Österreich an diesem Tag noch kein souveräner Staat war 1965 einig war gerade zerbrochen) auf ein nüchternes Ereignis, die parlamentarische Beschlussfassung über die immerwährende Neutralität am 26. Oktober 1955. Patriotische Emotionen ließen sich damit schwerlich beflügeln. Der 15. Mai avancierte vor dem Hintergrund dieser wenig glamourösen historischen Bezugspunkte rasch zum Feiertag der Herzen. Für die Jubiläen des letztendlichen Sieges des kleinen, unschuldigen Österreichs gegen die übermächtigen Alliierten wurde ein vielfältiges Repertoire aufgeboten: staatliche Gedenkakte, militärische Zeremonien, Dankgottesdienste, Zeitungssonderbeilagen, TV- und Radiosondersendungen, Ausstellungen, Sondermünzen, Briefmarken et cetera. So läuteten beispielsweise anlässlich des zehnten Jahrestages am 15. Mai 1965 in ganz Österreich eine Viertelstunde lang die Kirchenglocken, auf dem Wiener Heldenplatz fand ein Großer Zapfenstreich des Bundesheers statt, beim Staatsakt im Belvedere wurde mit den Außenministern der Signatarmächte die Balkonszene nachgestellt. Die Re-Inszenierung der Balkonszene sollte bei nachfolgenden Jubiläen wiederholt werden.
Die Waldheim-Debatte 1986, der davon angestoßene Zerfall der Opferthese und die schlugen sich in einem neuen Gedenktag nieder. Seit 1997 wird der 5. Mai, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus mit einer Feier im Parlament begangen.
Den Anstoß zur Würdigung des 8. Mai gaben hingegen Proteste gegen die provokante Besetzung dieses Tages durch das Totengedenken deutschnationaler Burschenschaften für die gefallenen Wehrmachtssoldaten in der Krypta des Heldendenkmals. Als 2012 publik wurde, dass in den Totenbüchern des Heldendenkmals auch Kriegsverbrecher und SS-Männer vermerkt sind, unterband das Bundesheer weitere Kranzniederlegungen. Seit 2013 veranstaltet das Mauthausen-Komitee Österreich am 8. Mai das „Fest der Freude“auf dem Heldenplatz, das Bundesheer beteiligt sich mit einer Ehrenwache beim Weiheraum für den österreichischen Widerstand.
Die durch die Waldheim-Affäre ausgelösten Grundsatzdebatten um die österreichische Mitverantwortung an den Verbrechen des Nationalsozialismus haben die offizielle Opferthese zu Fall gebracht. Der Gedächtnisort Staatsvertrag blieb davon erstaunlicherweise unberührt, obwohl damit weitaus problematischere Vorstellungen von Österreich als Opfer des Krieges gegen den Nationalsozialismus verbunden waren. 2005 wurde das Bild von 1945 als „dunkler Zeit“bruchlos reproduziert und in den zentralen Ausstellungen „Das Neue Österreich“im Oberen Belvedere und „Österreich ist frei!“auf der niederösterreichischen Schallaburg, aber auch im Kunstprojekt „25 Pieces“re-inszeniert. Allerdings formierten sich zum ersten Mal kritische Stimmen gegen die unreflektierte Wiederauflage des Nachkriegsmythos von der unschuldigen „Insel der Seligen“.
2015 stand erstmals in einem Fünfer-Jahr nicht wie bislang der Staatsvertrag im Vordergrund. Bundespräsident Heinz Fischer nahm den Staatsakt zum 70. Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik zum Anlass für ein nach wie vor ausständiges offizielles Statement zur Beurteilung des Jahres 1945. Fischer sprach den Streit über die Frage, ob Österreich 1945 tatsächlich befreit wurde, oder ob es nicht eher aus der Unfreiheit in Großdeutschland in die Unfreiheit durch die Besatzungsmächte geraten ist, direkt an. Auch wenn es in der Besatzungszeit Übergriffe, Menschenrechtsverletzungen und Willkürakte gegeben habe: „Die klare Antwort lautet wie folgt: Österreich ist 1945 von einer unmenschlichen, verbrecherischen Diktatur befreit worden.“
2020 hat sich in den Gedenkreden und in der Berichterstattung das Verständnis von 1945 als Jahr der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft weitestgehend durchgesetzt. Auch die Gewichtung zwischen der weltpolitischen Zäsur 1945 und dem national relevanten Datum 1955 scheint