Go West, East Men
Lutz Seilers Roman „Stern 111“: Gleich nach der Wende eröffnen die Eltern ihrem Sohn, das Glück im Westen suchen zu wollen. Er möge inzwischen das Haus in Gera hüten. Eine Gelegenheit, zwei ganz unterschiedliche Wendegeschichten zu erzählen.
Im Jahr 2014 setzte ihm der 1963 in Gera geborene Schriftsteller Lutz Seiler in seinem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman „Kruso“ein Denkmal: Aljoscha Rompe, der in den 1980er-Jahren die DDR-Punkband Feeling B gründete und zuvor in der heute wohl bekanntesten Lokalität der Ostseeinsel Hiddensee, der Gaststätte „Zum Klausner“, als Kellner gearbeitet hatte. Wer sich dem System der DDR entziehen wollte, nahm gern Zuflucht auf Hiddensee, zu einem entfernten Zipfel der Republik, wo der sozialistische Alltag durchlässiger war, und von wo man die Freiheit, die dänische Insel Møn, zumindest sehen konnte.
In Seilers neuem, sofort nach seinem Erscheinen mit dem Preis der Leipziger Buchmesse prämierten Roman „Stern 111“kehrt dieser Rompe alias Kruso wieder, als „Comandante“im Berliner Osten, kurz nach dem Fall der Mauer. Alles hat sich, nicht nur in Berlin, binnen weniger Wochen komplett verändert; vielerorts waltet ein Ausnahmezustand, dessen Konsequenzen niemand zu erahnen vermag.
Ins Zentrum dieses Getümmels platziert Lutz Seiler seinen ihm in vielem sehr ähnlichen Protagonisten Carl Bischoff. Der ist Ende zwanzig, stammt aus dem thüringischen Gera und sieht sich zum Dichter berufen. Mehr freilich als die Wende erschüttert ihn, wie seine Eltern Inge und Walter auf den Umsturz reagieren. Kurzerhand bestellen sie ihn nach Gera, teilen ihm mit, dass sie umgehend ihr Glück in Westdeutschland suchen wollen, und bitten ihren einzigen Sohn, sich um das Häuschen und ihren wichtigsten Besitz, ein weißes Exemplar des sowjetischen Edelautomobils Shiguli, zu kümmern.
Dank dieser Ausgangskonstellation gelingt es Lutz Seiler, zwei ganz unterschiedliche Wendeerzählungen miteinander zu verbinden, die jede für sich reichlich Stoff bietet. Carls Eltern scheinen ihren Aufbruch generalstabsmäßig vorbereitet zu haben: Sie trennen sich, um ihre Chancen zu erhöhen, erst einmal, als sie im Westen ankommen, und durchleben dann eine erstaunliche Odyssee, von der sie ihren Sohn in Briefen unterrichten.
Carls Vater findet bald Arbeit als „Trainer“bei einer Computerfirma, da er – was seine westlichen Kollegen kaum glauben wollen – über profunde Kenntnisse mehrerer Computersprachen verfügt. Carls Mutter, die sich in der DDR-Mangelwirtschaft darauf spezialisierte, „Weihnachtsrezepte ohne Mandeln und Rosinen“zu kreieren, tut sich schwerer, Arbeit zu finden, hat dann jedoch als Zugehfrau mit einem Arsenal eigenwilliger Arbeitgeberinnen zu tun. Der Bachmann-Preisträger von 2007, Lutz Seiler, ist ein Meister darin, skurrile Episoden aus diesem Flüchtlingsleben aneinanderzureihen und damit sowohl Carls wild entschlossene Eltern als auch den saturierten Lebensstil des Westens zu charakterisieren.
Das „lähmende Gefühl, unterlegen zu sein“, verlieren die Bischoffs bei allen beruflichen Erfolgen nie. Auf ganz andere Weise fremd fühlt sich ihr Sohn, als er klammheimlich seinen Posten in Gera verlässt und sich ins faszinierende Ostberlin aufmacht, wo er keine Menschenseele kennt. Carl, der bestaunte „Shigulimann“, kommt nach Berlin-Mitte, verdient sich mit Taxischwarzfahrten etwas dazu und schließt sich einem „klugen Rudel“an, das das Vakuum des Jahres 1990 ausnutzen will.
Mit genauem Blick für die einmalige historische Situation beschließt dieser Klub der Versprengten, den „Okkupanten“und „Spekulanten“zuvorzukommen und die „aufgegebenen, zum Tode verurteilten Häuser“zu besetzen. Man bildet einen Guerillastützpunkt und findet in der „Assel“, einer Kellerkneipe in der Oranienburger Straße, Unterschlupf – in einer Lokalität übrigens, die sich Seiler nicht ausgedacht hat: Nach der Wende entwickelte sich die Assel“schnell bedürftige Sehenswürdigkeit galten. Bereits das Hiddensee in „Kruso“zeichnete Seiler als „Enklave vor den Anfechtungen der restlichen Welt“und die, die sich dorthin zurückzogen, als „Bund der Eingeweihten“.
Unter ganz anderen Vorzeichen bilden auch die Hoffies, Henrys und Ragnas der „Assel“-Gemeinschaft lange Zeit eine verschworene Truppe, die mit den Segnungen des Kapitalismus und der „Knete vom Bullenstaat“(noch) nichts am Hut hat. Lyriker Carl nehmen sie unter ihre Fittiche, da er nicht nur Verse zu schmieden vermag, sondern auch als Maurer und Kellner seinen Mann zu stehen weiß. Er, der notorische Außenseiter, fühlt sich nach und nach als „Teil einer Gemeinschaft“. Und wie es so mit Refugien ist: Sie gedeihen meist nur kurze Zeit, und so stehen die Rudel-Mitglieder bald vor der entscheidenden Frage, wie lange sie ihre „Systemferne“aufrechterhalten können und wollen. Der Arm des Kapitalismus reicht weit.
„Stern 111“(der Titel bezieht sich auf ein beliebtes DDR-Reiseradiogerät) ist ein sehr komisches Buch, das mit großer Lust in die tiefsten Kellergewölbe des Jahres 1990/91 hinabsteigt, wo nicht nur Menschen hausen, sondern auch leibhaftige Ziegen, deren Milch als Cocktail-Beigabe stark nachgefragt ist und eine Hülle und Fülle aberwitziger Episoden ausbreitet. Carl hat in diesen Monaten nicht nur Mauern hochzuziehen. Er setzt alles daran, endlich seine Gedichte publiziert zu sehen, und er ringt um die Liebe einer jungen Frau namens Effi, die als bildende Künstlerin zu reüssieren versucht. Beide leben völlig „verschiedene Rhythmen“und kommen dennoch nicht voneinander los.
Ihre Liebe ist – so viel sei verraten – nicht von Dauer, doch der aufreibende Kampf, den Effi und Carl um ihr Glück führen, gehört zu den vielen glänzenden Passagen dieses Romans. Letztlich gelingt es Carl nicht, die Gefühls- und Gehirnwindungen seiner Geliebten zu begreifen, und vielleicht liegt darin die eigentliche Klammer dieses so reichhaltigen Buches: Wie rätselhaft Carl mitunter Effis Handeln erscheint, so gänzlich undurchschaubar sind ihm die Beweggründe seiner Eltern.
Dass er „nicht viel über seine Eltern wusste“, ist eine Erkenntnis, die sich im Lauf der Zeit zuspitzt. Denn der Gang in die Bundesrepublik war nicht das finale Ziel, das Inge und Walter vorschwebte. Sie treibt es, als man genügend Geld angespart hat, immer weiter Richtung Westen, bis ins – so viel sei verraten – kalifornische Malibu, wo man einen Traum, den ihnen der Rock-’n’-Roller Bill Haley Jahrzehnte zuvor eingepflanzt hat, leben möchte.
Von Gera nach Malibu, das ist kein geringer Bogen, den Lutz Seilers brillanter Doppelwenderoman spannt. Und gemeinsam mit dessen ein wenig naiven, zur Selbstironie befähigten Helden Carl nehmen wir freudig Anteil an dieser großen Reise die so