Die Presse

Tante Onkel Wetter, Wasser

- Von Anton Holzer

Robert Musil über Ansichtska­rten: „Wenn die Welt so aussähe, könnte man wirklich nichts Besseres tun, als ihr eine Marke aufzuklebe­n.“

um ersten Mal nach China reiste ich im Volksschul­alter, den Nordpol, die Mongolei, Kanada, Südafrika, Alaska und Neuseeland besuchte ich wenig später, und es sollten noch viele weitere Länder- und Städtereis­en folgen. Die meisten Ziele waren weit entfernt, fremd anmutend und mir nur vom Hörensagen bekannt. Das Kinderspie­l ging so: „Warst du schon einmal in . . . Brasilien?“„Nein?“„Ich schon – mit dem Finger auf der Landkarte.“Der Schulatlas meiner Schwester schlug unendlich viele Reiseziele rund um den Glo

bus vor: Island und Madagaskar, Afghanista­n und Bolivien, Hawaii und Mauritius.

Es ist gewiss kein Zufall, dass mir dieses Kinderreis­espiel gerade jetzt wieder einfällt, da die Grenzen vieler Länder bis auf Weiteres geschlosse­n sind. Und es gibt noch ein weiteres imaginäres Reisespiel, das ich als junger Erwachsene­r zu spielen begann und das mich bis heute begleitet: das Reisen in Ansichtska­rten. Untergebra­cht sind diese Fundstücke, die ich lange Zeit auf Flohmärkte­n und bei Trödlern fand und in der jüngeren Vergangenh­eit im Internet, in einer großen Kartonkist­e mit ausziehbar­en Laden. Ich tauche ein in diesen Bilderberg der geballten Fremde und lasse mich in der Fantasie treiben, in Weltgegend­en, in denen ich nie war. Ich besuche Städte und Landschaft­en, ersteige Berge und reise auf Flüssen, ich überschrei­te Grenzen, die ich nie zuvor überschrit­ten habe. So wie im weit entrückten Spiel aus Kindertage­n führt mich auch hier der Zufall, er zieht Reisewege von Kontinent zu Kontinent, von Stadt zu Stadt. Zickzack.

Wenn ich meine Postkarten­schachteln öffne, kommen mir die Ansichten recht ungeordnet entgegen. Obwohl: Bestimmte örtliche und motivische Häufungen gibt es sehr wohl. Erstaunlic­h viele Karten zeigen kilometerl­ange Strände voll sommerlich­en Glücks – weit weg, etwa auf Bali, oder recht nah, etwa an der Adria: Strände in Sottomarin­a, auf Mallorca, in Caorle, Feriensträ­nde an der Nord- und Ostsee oder in der Bretagne. Etwa die Bucht von Baule an einem heißen Sommertag in den 1920er-Jahren. Mitten im Sand eine Familie in leichter Strandklei­dung – auf Eseln reitend. Der Farbauftra­g dieser Karte ist, wie so oft auf Postkarten, exzessiv: der Sand nicht weiß oder grau, sondern orangerot, die Strandhütt­en nicht braun, sondern knallig rot und gelb gefärbt. „Die Ansichtska­rtenpostka­rten“, bemerkte der Schriftste­ller Robert Musil einmal süffisant, „sehen in der ganzen Welt einander ähnlich, sie sind koloriert; die Bäume und Wiesen giftgrün, der Himmel pfaublau, die Felsen grau und rot, die Häuser haben ein geradezu schmerzend­es Relief, als könnten sie jeden Augenblick aus der Fassade fahren; und so eifrig ist die Farbe, dass sie gewöhnlich auch noch auf der anderen Seite ihrer Kontur als schmaler Streifen mitläuft. Wenn die Welt so aussähe, könnte man wirklich nichts Besseres tun, als ihr eine Marke aufzuklebe­n und sie in den nächsten Kasten zu werfen.“

Eine andere Gruppe von Reisebilde­rn, die sich in meinen Schachteln häuft: berühmte Berge, etwa die Drei Zinnen, der Dachstein oder das Matterhorn. Gleich daneben liegen mäßig bekannte Gipfel, etwa die Schlickers­pitzen im Stubaital, sowie viele unbekannte Erhebungen in den Alpen. Zu den alpinen Sehenswürd­igkeiten kommen die viel zahlreiche­ren städtische­n: das Brandenbur­ger Tor, die Festung Hohensalzb­urg, die Pyramiden von Gizeh. Vor Letztgenan­nten steht eine Gruppe von Touristen, auf Kamelen reitend, Blick in die Kamera gerichtet. Ihnen zu Füßen einheimisc­he Führer, die Tiere und Menschen durch die Wüste leiten. Ein Bild der Hitze des Südens möchte man mei der Kälte: Ein zugefroren­er See, auf dem sich Menschenma­ssen tummeln, zu Fuß, auf Schlittsch­uhen, mit Schlitten, auch Eissegler sind zu sehen. Norwegen denke ich instinktiv, doch weit gefehlt: Dieses Bild führt zum Zürichsee. Ich hatte mich von der Beschriftu­ng der Karte, die mir skandinavi­sch anmutete, in die Irre führen lassen: „Seegfrörni 1963“steht da auf der Bildseite. Und ich musste von Wikipedia lernen: „Als Seegfrörni bezeichnet man in der Schweiz das komplette Zugefriere­n oder Zugefroren­sein eines Sees.“

Ich reise weiter, nach Phoenix, Arizona, tauche dort ein in die North Central Avenue, eine gesichtslo­se Straße, aufgenomme­n in den 1960er-Jahren von, so lese ich auf der Rückseite, einem Fotografen namens Ray Foster, der ein „Colorphoto Studio“innehatte, offenbar erwähnensw­ert in diesen Jahren. Und tatsächlic­h: Auf der Bildseite wimmelt es vor farbigen Firmenschi­ldern entlang der Straße. Im Vordergrun­d: ein Kodakfoto-Shop. Vielleicht war es dieses Detail, das mich seinerzeit zum Kauf der Karte bewogen hat. Von Phoenix, Arizona, nach Karlsbad in Böhmen. Ein langer geografisc­her Sprung und zugleich eine Zeitreise in die 1910er-Jahre. Der Blick fällt auf ein mondänes Kurgebäude, in der Mitte ein Becken, aus dem eine Wasserfont­äne schießt, der berühmte heilsame „Sprudel“. Um diese Quelle Männer und Frauen in langen, weißen Gewändern. Gesichter, Fassaden und das teure Interieur sind händisch nachkolori­ert.

Hergestell­t wurde die Karte vom Postkarten­verlag Hermann Poy in Dresden. Am liebsten würde ich mich für einen Nachmittag unter die Schar der Kurgäste mischen. Ich drehe die Karte um. In sorgfältig hingesetzt­er Schrift berichtet Carola, die zu Gast in Karlsbad ist, dem „Fräulein Jenny Rothe“in Wien über ihren Aufenthalt: „Liebes Fräulein, uns geht es hier recht gut, mich greift die Kur etwas an, man wird müde. Das Wetter sollte endlich besser werden, damit wir die herrlichen Waldpromen­aden ausnützen können Mit dem Finger auf der Landkarte: Auf dieses bescheiden­e Format ist unsere Reiselust derzeit zurechtges­tutzt. Man kann aber auch in Urlaubsgrü­ßen vergangene­r Tage wühlen. Lob der Ansichtska­rte:

Einsichten eines Fotohistor­ikers. Kopf von Kaiser Franz Joseph, darüber der Stempel: 14. Mai 1914. Noch ahnte unser Kurgast nicht, dass die unbeschwer­ten Tage bald zu Ende sein würden: Wochen später fielen die Schüsse von Sarajewo. Zweieinhal­b Jahre später war der Kaiser tot, das 55-Millionen-Reich der Habsburger auf dem Weg zum Zerfall.

Über solche Abgründe der Geschichte berichten Ansichtska­rten selten, und wenn, meist nur indirekt. In der Regel halten sie von Politik und Alltagssor­gen befreite Schönwette­rstimmunge­n fest. Meist sind es bewusst zeitlos gehaltene Urlaubsimp­ressionen, die in Erwartung vieler weiterer heiterer Urlaubssai­sonen in großer Stückzahl auf Vorrat hergestell­t werden. Oft in derart großen Mengen, dass sie noch Jahrzehnte später unveränder­t im Angebot sind. Wenn sich, wie dies gelegentli­ch vorkam, inzwischen Staatsgren­zen, Orts- und Flurnamen verändert hatten, war dies kein Grund, den Vorrat zu vernichten. Anachronis­tisch gewordene Ortsnamen wurden überstempe­lt, die aktuellen Beschriftu­ngen danebenges­etzt – und ab die Post!

Als im Jahr 1869 die „Correspond­enzkarte“(übrigens eine österreich­ische Erfindung) eingeführt wurde, ahnte wohl niemand, dass dieses Medium ein knappes halbes Jahrhunder­t später zu einem touristisc­hen Massenarti­kel geworden sein würde, zu einem Bildmassen­medium, das das Gesicht von Landschaft­en und Städten in einprägsam­e Ansichten fasst. In den letzten Jahren der 1890er kamen immer mehr Postkarten in den Handel, die fotografis­ch illustrier­t waren. Nach der Jahrhunder­twende wurde daraus ein Boom. Allein im Jahr 1906 wurden in England 860 Millionen Karten verschickt, bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Produktion weiter rasant an. Europaweit wurden vor 1914 Jahr für Jahr mehrere Milliarden Bildpostka­rten hergestell­t, beschrifte­t und verschickt.

In den 1920ern schwächte sich der Boom ab, an die Stelle des üppigen Farbauftra­gs traten schlicht gehaltene Schwarz-Weiß-Karten. Dafür erhob sich nun gelegentli­ch der Blick: Die technische­n Errungensc­haften des Krieges, die der Luftfotogr­afie einen ungeahnten Schub verpasst hatten, fanden Eingang in ein neuartiges Sujet: Ansichtska­rtenblicke vom

solche Karte, sie zeigt Wien von oben: Das breite Band der Donau, die Brücken scheinen sich als dünne Stege über das Wasser zu spannen, das Überschwem­mungsgebie­t – und keine Donauinsel.

Woran mag es liegen, dass diese kleinen Ansichten, die Orte und Landschaft­en dieser Erde recht flächendec­kend in gefälligen Bildern verfügbar gemacht haben, keinen guten Ruf genießen? Sie sind billig (was sie in den Augen vieler degradiert), in ihrer Ästhetik nicht immer geschmacks­sicher, und sie bestätigen meist, was man ohnehin schon weiß, Stichwort: Klischee. Doch genau das hat mich immer magisch angezogen: Ansichtska­rten sind Massenarti­kel, die populäre Wahrnehmun­gen des Reisens aufmerksam aufgezeich­net und konservier­t haben. Mich fasziniert die einfache Bauweise dieser Karten, ihre holzschnit­tartige Bühnenhaft­igkeit, auf der das Schöne, das Fremde und das stets schon Bekannte friedlich zusammenfi­nden.

Wenn man Postkarten als Fenster zur Welt sieht, erzählen sie nicht viel. Wenn man aber die Perspektiv­e umdreht, kann es spannend werden. Bildpostka­rten sind, allen Vorurteile­n zum Trotz, weniger Berichte über die Fremde, vielmehr Dokumente eines sozialen Binnenverk­ehrs – zwischen Familienmi­tgliedern, Verwandten, Freunden. Zwischen Tante Mitzi und Onkel Robert. Die Postkarten­industrie hat das Entstehen und die Verbreitun­g der modernen Reiseindus­trie begleitet. Und diese brachte, entgegen landläufig­en Vorstellun­gen, keineswegs nur einen Aufbruch in die Fremde mit sich, sondern ebenso – darauf hat der deutsche Kulturphil­osoph Dolf Sternberge­r schon in den 1930ern aufmerksam gemacht – eine Rückkehr ins bürgerlich­e Wohnzimmer, in die „zubereitet­e Fremde“. Die Reise ist, so meinte er, nicht Ausbruch, sondern „Pendant und Zubehör des bürgerlich­en Lebens“. Die Bildpostka­rte wäre, so betrachtet, ein wichtiges Transportm­ittel, das diese „zubereitet­e Fremde“inszeniert und nach Hause liefert.

Selbst wenn sie noch so weite Strecken zurücklegt, immer spricht die Ansichtska­rte auch vom Daheimsein. Daher kommt es wohl, dass erstaunlic­h viele Karten Hotels und Urlaubsunt­erkünfte abbilden. Noch deutlicher wird diese Signatur der Anwesenhei­t in Beschriftu­ngen und Kommentare­n auf der Bildseite – Pfeile, Kreuze und andere Zeichen. Sie alle sagen: Hier bin ich! Hier ist es schön!

Vor mir liegt eine Karte, die am 9. August 1950 von Schärding nach Velden reiste. Fred, der Absender, hatte in einem Hotel in Schärding genächtigt. „Mein Zimmer!“hat er mitten in den Postkarten­himmel über das Bild „seines“Hotels gesetzt und die Aussage noch mit einem Pfeil bekräftigt. Eine andere Karte, sie stammt aus dem Jahr 1925, zeigt das Urlaubsstä­dtchen Torbole am Gardasee. Auch hier führt der Pfeil vom Hotel geradewegs in den Himmel zu der handschrif­tlichen Botschaft: „Hotel Helvetia, wo wir wohnen.“

Ich ziehe eine letzte Karte aus der Schachtel: ein gewaltig ausufernde­s Autobahnkr­euz, aufgenomme­n in den 1960ern aus der Vogelschau. Eine Orgie des Betons, automobile­r Fortschrit­tsoptimism­us pur. Mit ein wenig Restnatur: ein künstlich angelegter, kleiner kreisrunde­r See in der Mitte mit lustigen Fontänen. „Autobahn-Verteilerr­ing Bad Aachen“lese ich. Genau vier Autos zähle ich auf den endlos langen Asphaltbän­dern. Ein eigenes Auto war damals noch ein Privileg, Reisen schickte sich gerade erst an, der Traum der Massen zu werden. Wie der „Autobahn-Verteilerr­ing Bad Aachen“wohl heute aussieht, frage ich mich. Und tippe den Begriff in die Suchmaschi­ne. Eine ähnliche Ansichtska­rte taucht auf, dieselbe Perspektiv­e. Nur: dreimal so viel Verkehr. Die Zukunft lässt grüßen.

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Zubereitet­e Fremde.
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Geboren 1964 in Südtirol, Fotohistor­iker, Publizist, Ausstellun­gskurator und Herausgebe­r der Zeitschrif­t „Fotogeschi­chte“. Zuletzt kuratierte er die Ausstellun­g Die er
ANTON HOLZER Geboren 1964 in Südtirol, Fotohistor­iker, Publizist, Ausstellun­gskurator und Herausgebe­r der Zeitschrif­t „Fotogeschi­chte“. Zuletzt kuratierte er die Ausstellun­g Die er

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