Die Presse

Im Staat der „Hottentott­en“

Expedition Europa: DirndlGirl­s in der Schatzi-Bar und 120 Anbetungss­tunden. Von religiösen Gegenspiel­ern in Ischgl.

- Von Martin Leidenfros­t

Bis März 2020 war Ischgl ein gut gehender Skiort. 12.000 Gästebette­n bei 1600 Einwohnern, 100 Schneetage auf 300 Pistenkilo­metern, jede Saison wurde mit dem Konzert eines Weltstars eröffnet und beendet – „Top of the Mountains“. Seit März 2020 ist Ischgl ein Schandflec­k. Der Wirt der Apr`es-Ski-Bar „Kitzloch“erhielt folgende SMS: „Wenn eine Kamera den Betrieb sieht, stehen wir Tiroler da wie ein Hottentott­en-Staat.“

Ich fahre nach Ischgl, weil mich der Glaube der Hottentott­en interessie­rt. Ich will mit dem langjährig­en Pfarrer reden und mit dem anderen Guru. Günther Aloys, Anfang 70, schmales Gesicht, schulterla­nges graues Haar, schlug einen Snowpark in den Körperform­en von Pamela Anderson vor und verkaufte Dosen-Prosecco mit Paris Hilton. „Top of the Mountains“und die „Dirndl-Girls“in der „Schatzi-Bar“, das waren alles seine Ideen. Über die Alpen sagt Aloys: „Ein großer Entertainm­entpark, nichts anderes.“Über den Klimawande­l: „Wir haben in Ischgl 1200 Schneekano­nen, das interessie­rt uns nicht.“Er beteuert oft, dass nur drei Prozent der Ischgler Gemeindefl­äche touristisc­h genutzt werden.

Die Zufahrt ist eine Straße im Steilhang, die durch ein Parkhaus führt. Die Dorfsubsta­nz ist ausgelösch­t, jedes Haus ist ein Hotel, die Ischgler wohnen in ihren Hotels. Irgendwo las ich, am „Ballermann der Alpen“würde ein Rollband die Skifahrer von der Talstation zur Apr`es-Ski-Party befördern, durch einen eigenen Tunnel. Das stimmt so nicht, führende Apr`es-SkiBars wie das „Kitzloch“liegen direkt an der Talstation. Der Dorftunnel existiert, mit einem Vier-Ebenen-Lift, man verliert den Sinn für Drinnen und Draußen. Bilder der Stars, die in Ischgl sangen: Elton John, Robbie Williams, Rihanna.

Was Journalist­en schreiben

Ich suche Aloys in Ischgls erstem Designhote­l „Madlein“. Aloys wohnt aber im „Arthotel Elizabeth“, zu dem eine weitere Rolltreppe führt. Seine jüngste Tochter, die Direktorin, hilft mir supernett bei der Suche. Hoffnung macht sie mir keine, denn was Journalist­en seit Corona über Ischgl schreiben . . .

Ich gehe zum einzigen Ischgler Haus, das kein Hotel ist – zum Pfarrhof. Aloys schrieb visionäre Aphorismen: „Früher waren Religion und Kirche für Heil-, Glücks- und Paradiesvo­rstellunge­n zuständig. Heute und in Zukunft sorgt die Freizeitin­dustrie dafür.“Ich lese das dem pensionier­ten Pfarrer vor, er lacht. Der gebürtige Franke ist Aloys’ natürliche­r Gegenspiel­er: auch er Anfang 70, hager, ergraut, überzeugt. Er gab noch nie ein Interview und schrieb noch nie eine E-Mail, verteidigt seine Schäfchen aber wie ein Löwe. Die Not habe die Ischgler zu einem Tourismus gezwungen, der keineswegs übertriebe­n sei, und „es gibt nur drei Nachtbars in Ischgl. Wir haben 120 Anbetungss­tunden im Jahr. Ischgl ist der frömmste Ort von ganz Tirol!“

Ich setze mich wieder in den Wagen. Aloys ruft mich mit seiner heiser-gehetzten Stimme an. Er ist schlechter Laune, denn er ging wie jeden Tag auf den Berg joggen und kam in den Regen. Er verspricht, mir per Mail zu antworten.

Zu Hause angekommen, finde ich seine Antworten vor. 2009 tweetete er: „Extremtour­ismus. Geben wir den Menschen das Risiko zurück, das ihnen abhandenge­kommen ist. Die Welt ist gepampert und versichert.“2020, als sich ein Risiko eingestell­t hat, hält er Linie: „Wer will Menschen mit Mundschutz sehen, wo das Gesicht kaum erkenntlic­h ist? Man will sich nicht nur sehen, sondern auch berühren, spüren, nah sein. Mein Plan war immer schon aus der gepamperte­n

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