Wenn wir an der Welt ersticken
Ein Virus macht’s möglich: Endlich können sich Kunstverächter aller Schattierungen in der Vorstellung von Überlegenheit einrichten. Motto: Jetzt haben wir doch wirklich andere Sorgen, oder? Was uns dieser Tage verloren geht – und wer sich darüber freut: e
Es gibt nichts Weltfremderes als den Realismus von Kabinetten und Ministern, außer dem der Diktatoren, die sich für noch realistischer halten.“Diesen Satz schrieb Elias Canetti 1943, zu verdanken habe ich ihn einem Hinweis des Schriftstellers Klaus Merz, mit dem ich einen zart-aufsässigen Glauben teile: den Glauben an die Anrufbarkeit des Menschen durch die Kunst. Was geschieht, wenn die Kunst aus der Öffentlichkeit verbannt wird? Was macht es mit uns, wenn wir nicht mehr die Option haben, ins Kino, ins Theater, ins Konzert, in die Oper, zu einer Lesung gehen zu können – was macht es mit einer Gesellschaft, wenn ihr dieser Möglichkeitsraum genommen wird? Was richtet es mit uns an, wenn der gesamte Kulturbereich in eine seit 1945 nicht da gewesene ökonomische Katastrophe gestürzt und damit massiv geschwächt wird? Und das in einer insgesamt zutiefst fragilen, unsicheren Situation. Brauchte es nicht gerade jetzt mehr Kunst, mehr Kultur?
Zurück zu Canetti. Immer wieder fällt mir dieser Tage der oben zitierte Satz des leidenschaftlichen Todeshassers und kompromisslosen Zweiflers ein. Warum? Weil „der Realismus“wieder hoch im Kurs steht in den gesellschaftspolitischen Debatten der Gegenwart. Und: weil in diesem Satz die Aufforderung steckt, jedem behaupteten Realismus und damit jeder behaupteten Wirklichkeitsnähe und damit Wirklichkeitskonstruktion – zumal politischer Provenienz – skeptisch zu begegnen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier geht es nicht um die Kommentierung der Covid-19-Maßnahmen der österreichischen Regierung – dazu gibt es Fachleute. Auch geht es nicht um das Einstimmen in den wachsenden Chor von Verschwörungstheoretikern, die vor allem dort Fake News wittern, wo ihnen die Wahrheit nicht genehm ist. Hier geht es vielmehr um die Frage, ob gegenwärtig die Bereitschaft zur Offenheit im Denken, die Kunst immer schon praktiziert, für die Kunst immer schon eingestanden ist, in Gefahr ist. Diese Bereitschaft zur Offenheit im Denken – die im Übrigen von großer demokratiepolitischer Relevanz ist – kollidiert zurzeit jedenfalls mit der Covid-19-bedingten narrativen Verengung unserer Welt.
Die Welt ist, seit und mit Covid 19, unerträglich eng gemacht worden. Jene, die diese Enge gestalten und verwalten, inszenieren sich nicht selten als heldenhafte Realisten. Dabei wird gern verschleiert, dass dieser Realismus – wie letztlich jede Form der Formulierung – auf einer Verabredung beruht, also gemacht ist entschieden interessengesteuert gen ist mit dieser Form der Verbreitung von Enge immer schon eine autoritär gesetzte Hierarchisierung dessen, was wichtig und was unwichtig ist, was also in der „neuen Wirklichkeit“mitspielen darf und was nicht. Eindeutig dem Bereich des Unwichtigen werden heute wieder die Kunst, die Kultur zugezählt, zum Vernachlässigbaren, zum Zeitvertreib, zum Oberflächenputz werden sie gerechnet, worauf man ja zwischenzeitig durchaus verzichten könne – es gäbe schließlich Dringenderes, Lebensnotwendigeres.
Immer lauter werden – wie tröstlich und zugleich besorgniserregend – die Stimmen jener, die artikulieren, dass uns ohne Kunst die Tabus und Phrasen unserer Gegenwart als Faust im Mund stecken blieben, wodurch wir an uns selbst und der Beschränktheit der Zeit, in der wir leben, erstickten. Ob es wichtig ist – was dieser Tage häufig geschieht – hervorzuheben, dass der Kunstsektor vielen Tausend Menschen Arbeit gibt und dieser Bereich ein äußerst relevanter ökonomischer Faktor in unserem Land ist? Beeindruckt von Zahlen sind meist nur jene, die Ökonomie mit Realismus verwechseln und Realismus mit der Wirklichkeit, oder noch schlimmer: mit der Wahrheit.
Ich würde mir wünschen, mit der Behauptung falsch zu liegen, dass in dieser neuen Hierarchisierung – hier das Systemrelevante, dort das Systemirrelevante – auch eine tiefe, verdrängte Lust steckt, Kunst und Kultur zu gängeln, ins Reich der Irrelevanz zu verfrachten: womit auch gleich das lästige Pochen auf Komplexität und der Widerstand gegen Simplifizierungen entsorgt wären. Wer will sich denn, Hand aufs Herz, in einer Welt, in der Kunst in der Regel nur mehr als Kreativwirtschaft gedacht werden kann und in der der Dreh- und Angelpunkt allen Seins die Idee der Effizienz zu sein scheint, mit etwas beschäftigen, das sich nicht anpassen, nicht dienstbeflissen sein will, das sich vorherrschenden Deutungen nicht beugen, der Tradition nicht den geforderten Respekt zollen will, das sich nichts verordnen lässt, das Fragen stellt, das Maßloses fordert, das fremd sein will, das sich nicht fügen will, vielleicht auch nicht kann, das das Primat der Ökonomie außer Kraft setzt, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken. Die Idee der Rücksichtnahme hat ja erst seit Kurzem Hochkonjunktur in der politischen Rhetorik der Mächtigen. Bis vor Kurzem hieß es doch etwa noch, es werde nicht ohne hässliche Bilder gehen. Da ist jemand wie Peter Handke zuverlässiger, der bereits in seiner Büchnerpreisrede sagte: „Seit ich mich erinnern kann, ekle ich mich vor der Macht, und dieser Ekel ist nichts Moralisches, er ist kreatürlich, eine Eigenschaft jeder einzelnen Körperzelle.“
Ich werde mich übrigens aufrichtig freuen, wenn ich Unrecht behalte mit der Beobachtung, dass es in unterschiedlichsten Bereichen, auch und nicht zuletzt in der Medienlandschaft hierzulande, gerade jene sind, die die Lust an der Gängelung der Kultur in vollem Umfang ausschöpfen, die lange vor Corona Kunst und Kultur mit großer Herablassung begegneten. Endlich kann man sich als jemand, dem sich der Wert von so etwas wie Kunst entzieht, in der Vorstellung von Überlegenheit einrichten. Und das noch dazu im moralischen Leo sich wähnend. So kann man gegenwärtig mit oder ohne Mundschutz missachten, worauf man immer schon gepfiffen hat.
Am Ende mündet diese Geisteshaltung in der guten alten Vernichtungsfrage: Wozu braucht man das alles überhaupt? Xaver Bayer lässt in seinem neuen, düster-ernüchternden Buch „Geschichten mit Marianne“seine zwei Hauptfiguren Bücher verbrennen als Maßnahme gegen das eigene Erfrieren: womit die Antwort auf die Frage nach dem praktischen Nutzen von Kunst in einem sehr schmerzhaften Bild festgehalten wäre. Dieses Bild, es zeigt: Wer die Kunst der konventionellen Vorstellung von Nützlichkeit unterwirft, betreibt notgedrungen ihre Auslöschung.
Es ist wichtig, dass man zornig wird, hat Ilse Aichinger einmal in einem Gespräch mit Cornelius Hell gesagt. Ja, es ist wichtig, dass man zornig wird. Und es ist wichtig, sich nicht zu beruhigen. Ilse Aichingers „Verschenkter Rat“lautet: „Hör gut hin, Kleiner, / es gibt Weißblech, sagen sie, / es gibt die Welt, / prüfe, ob sie nicht lügen.“
Wer die Kunst der konventionellen Vorstellung von Nützlichkeit unterwirft, betreibt notgedrungen ihre Auslöschung.