Das große Aufsperren
Wieder offen. Nur vorsichtig schleicht sich wieder Alltag in die Stadt – was wohl nicht nur am Regen liegt. Ein Rundgang.
Nur vorsichtig schleicht sich wieder Normalität in die Stadt – was wohl nicht nur am Regen liegt. Ein Rundgang.
Wien. Man kann es als Zeichen der Normalität werten. Wenn das Wetter nicht passt, geht der Wiener nicht raus. Da kann man ihm die Wirtshäuser noch so lange verwehren, so ganz wollte dieser Freitag, der 15. Mai, dann doch nicht gefeiert werden. Der Andrang blieb verhalten.
Lokale
Es stellt sich ein ungewohntes Gefühl der Aufregung ein, wenn man nach einer gefühlten Ewigkeit ins Kaffeehaus gehen kann. Das ist an diesem Freitagvormittag im Cafe´ Landtmann zu spüren. Die Gäste folgen brav Anweisungen am Eingang: zuerst werden die Hände desinfiziert, dann wartet man vor dem Stehpult, bis ein Kellner herangeeilt kommt, einen Blick auf die Reservierungsliste wirft und selbst jene, die ohne Reservierung einen Kaffee trinken wollen, überaus freundlich zu einem Tisch begleitet. So herzlich willkommen wird man wohl nur an diesem Tag. Drinnen steht auf jedem zweiten Tisch ein „Sitzen verboten“-Schild. Jene Gäste, die offenbar nicht in einem Haushalt wohnen, sitzen zu zweit und schräg versetzt auf einem Vierertisch. Man ist zuvorkommend, weicht anderen Gästen aus, trägt beim Eintreten Maske.
Man sieht den Kellnern trotz Maske an, dass sie lächeln. „Grüß’ Sie, Herr Professor“, sagt einer zu einem Stammgast und hält ihm den Ellbogen hin. Der weiß nicht recht, wie er tun soll und drückt ebendiesen mit der Hand. Zwei Damen sind bereits vom Kaffee zu einer Flasche Wein umgestiegen. Es liegt ein Gefühl der Erleichterung, des Aufatmens in der Luft.
Es sind vor allem die Stammgäste, die ihren Lokalen einen Besuch abstatten. „Wir sind verhältnismäßig gut gebucht“, sagt etwa Fabio Giacobello, der in der Innenstadt das Fabios betreibt. Er mache sich dennoch seine Gedanken, wie es vor allem in den nächsten Wochen weitergehen wird. „Wir freuen uns über jeden Kunden.“
Ähnlich sieht das Peter Friese, der gleich ums Eck das Schwarze Kameel betreibt. Der berühmte Schanigarten wurde mit Oleander als Abstandhalter geschmückt. Ein paar Männer genießen unter Heizstrahlern ein kleines Vormittagsbier. Peter Friese geht optimistisch an die Sache. „Ich glaube in zwölf Monaten haben wir die Sache im Griff. Wenn wir 50 Prozent von dem machen können, was wir vorher eingenommen haben, dann sind wir sehr erfolgreiche.“Das gute an der Krise sei, dass „sie zeigt, wie wichtig die Gastronomie ist, sie bringt Leben in die Stadt“, sagt er. So ganz ist das erwünschte Leben aber noch nicht da. Ums Eck am Graben spaziert tatsächlich ein Entenpaar auf dem ungewöhnlich leeren Pflaster.
Ungewöhnlich leer bleibt es auch am Naschmarkt. Die Tische wären (vielfach nur mit Tischtuch, nur einzeln sah man eine Menage, und auch die laminierten Speisekarten sind weitgehend verschwunden) in den verordneten Abständen gerichtet gewesen, die
Stühle unter den Markisen mit Decken ausgestattet. Nur es kommt niemand. Oder, nur ganz Vereinzelte, die draußen Platz nahmen. Und auch viele Lokale, die gewöhnlich von Touristen leben, bleiben völlig leer. Kellner mit Maske, zumeist aber mit Gesichtsvisier, teils auch mit Handschuhen, sieht man in den Türen oder an den Bars warten.
Andere Lokale, das Nautilus, Neni, sind trotzdem schon am Freitag – im Innenbereich – ziemlich gut besucht, andere, das Tewa oder Orient Occident, bleiben völlig verwaist. Ein Effekt des Regens? Kommt die große Wiedereröffnungs-Freude, wenn die Sonne scheint? Das werden spätestens die kommenden Tage zeigen.
Religionen
Die Kirchen haben wieder ihre Tore geöffnet – wenn auch unter Beschränkungen. Die Premiere am Freitag um 6.30 Uhr im Stephansdom erfolgt ohne Problem und ohne Pomp. Jede zweite Bankreihe ist abgesperrt. Riesenandrag beim Riesentor? Nicht ganz.
Es tröpfelt. Wien scheint noch zu schlafen. Der Stephansplatz präsentiert sich menschenleer. Nicht einmal Tauben sind zu sehen. Das Riesentor des Stephansdoms ist geöffnet. Erstmals seit dem Lockdown dürfen öffentliche Gottesdienste stattfinden. Menschen tröpfeln spärlich ein. „Ich bin der glücklichste Mensch der Welt, dass ich wieder heilige Messe feiern darf“, sagt Danka Prchalova, gebürtige Slowakin, die seit 30 Jahren in Wien lebt.
350 Personen dürfen an der ersten Morgenmesse teilnehmen, wie an jeder anderen auch in den nächsten Tagen, Wochen oder Monaten, wer weiß das schon genau. Tatsächlich werden es bis zum Beginn der Eucharistiefeier 16 sein, wie der Bildschirm der elektronischen Zählung ausweist. Ordner werden um diese Uhrzeit (noch) nicht benötigt, das ahnte Dompfarrer Toni Faber wohl schon vorher. Niemand also, der beim Riesentor kontrolliert, ob Masken angelegt sind. Aber alle, die kommen befolgen die Regeln ohnedies mit größter Selbstverständlichkeit.
Wie das Amen im Gebet ist für Viktor Justin auch der tägliche Messbesuch: „Das gehört zum Leben für mich dazu.“Er war, wie er selbst sagt, „privilegiert“. In einer Wohngemeinschaft des Opus Dei, in der auch ein Priester dabei ist, konnte er auch zuletzt jeden Tag Messe feiern. Aber jetzt, mit dem Gang in den Dom vor dem Gang in die Arbeit, „da ist wieder ein Stück Normalität zurück“, meint er.
Normalität – aber nur fast. Immerhin hebt, anders als sonst um diese Uhrzeit, sogar die Orgel an. Der Priester, zunächst ohne Maske, zelebriert auch nicht vom Altar vor Maria Pötsch aus, sondern ganz vorne beim Hauptaltar. Nicht weil so ein großer Ansturm erwartet worden wäre. Sondern um (Kleinwalsertal aufgepasst!) den Abstand besser wahren zu können. Jede zweite Bankreihe ist mit einer blauen Kordel abgesperrt. Auf den frei Gebliebenen liegen schmale Holzplatten mit der Aufschrift „2 m Abstand/Distance 2m“.
Das Kommuniongitter sorgt später für ausreichend Abstand zwischen Priester und denen, die nach vorne treten. Dass auch beim Anstellen Abstand gehalten werden muss, versteht sich von selbst. Sehr behutsam, um nur ja nicht die Hand der Kommunionempfänger zu berühren, legt der Priester, jetzt auch er mit Maske, die Hostie in die Hand, die die meisten unter der Maske zum Mund führen. Nach exakt 30 Minuten ist die Messe zu Ende. Ohne Pomp, so schnell kann es gehen. Bei dem bekannten Bildnis „Maria Pötsch
werden sonst von Kirchenbesuchern, darunter vielen Touristen, aberdutzende Kerzen entzündet. Heute flackern hier neun einsame Kerzen. Draußen hebt der Wiener Alltag gemächlich an. Die ersten Lieferfahrzeuge sind zu sehen. Fast so etwas wie Normalität.
Die kehrt auch in die Moscheen wieder ein. Aber nicht ganz, denn eigentlich sollte man beim Gebet eng beisammen stehen, damit der Shaitan, der Teufel, keinen Platz findet. Doch beim ersten Mittagsgebet in der Aziziye-Moschee in Rudolfsheim-Fünfhaus bleibt zwischen den Gläubigen zwangsläufig viel Raum. Mehrere zweieinhalb Meter breite Matten sind im Gebetsraum aufgelegt, an ihren Enden dürfen die Besucher ihren Gebetsteppich auflegen – den eigenen, natürlich. Rund 30 Muslime haben sich zum Gebet versammelt, eine Predigt gibt es nicht. Nur die
Anrufungen Allahs, das Niederknien vor Gott. Und ein paar kurze Sätze von Imam Fatih Öztürkyilmaz. Die Umarmung zur Begrüßung, sonst selbstverständlich, fällt aus. „Danke für das Befolgen der Regeln“, sagt der Imam. „Und möge Allah die Menschheit bald vom Virus befreien.“
Freizeit
Seit man das letzte Mal hier war, sind wohl hunderttausende Touristen ein- und ausgegangen. Wie oft geht man als Wiener schon ins Schloss Schönbrunn selbst? Nun, ein Besuch ist nach 65-tägiger Sperre wieder möglich und schon der Weg über den verwaisten Ehrenhof lässt ahnen, dass es sich auch im Inneren nicht drängen wird. Im Gegenteil: Im Visitor Center stehen mehr Mitarbeiter (mit Visier) als Besucher herum. Gleich nach wenigen Metern ist der erste Desinfektionsspender aufgestellt.
Die „sechs Regeln für Ihren Besuch“, die man am Eingang lesen konnte, muss man kaum beachten: Sicher, die Gesichtsmaske muss man tragen. Auf die Bodenmarkierungen aber muss man kaum achten – gibt es doch kaum jemanden, dem man zu nahe kommen könnte. Vorbei an der Garderobe geht es hinauf in die Prunkräume des Schlosses. Hier ist man plötzlich ganz allein. Im großen Schloss. Kann sich in Ruhe jeden Raum ansehen, auf Details achten, die einem sonst entgangen wären.
Eine Touristenattraktion ohne Touristen? Was für das Schloss wirtschaftlich schwierig ist, ist für die Besucher eine Chance, das Schloss so entspannt zu besuchen wie wohl selten zuvor. Ab und zu begegnen einem Mitarbeiter, man lächelt ihnen trotz Gesichtsmaske automatisch zu, sie lächeln zurück.
Auch der Tiergarten Schönbrunn ist wieder offen: Der Regen hat auch hier einige Besucher abgeschreckt, aber einige Dutzend sind es doch, vor allem Eltern mit kleinen Kindern, die gleich um neun Uhr in den Zoo wollen.
Das große Plus: Im Freien darf man ohne Maske unterwegs sein. So fühlt sich der Besuch fast wie ein normaler an – wären da nicht die vorläufig gesperrten Tierhäuser. Alle paar Meter sind blau-grüne Pfeile auf den Boden aufgemalt, die die Besucher leiten: Eine Art Einbahnsystem, das verhindert, dass einem andere Besucher entgegenkommen. So kann man jetzt nicht immer überall einfach umdrehen und zurückgehen, muss mitunter einen kleinen Umweg in Kauf nehmen. Manch einer braucht noch ein wenig Nachhilfe von den mit Visieren ausgestatteten Zoo-Mitarbeitern.
Dort, wo sich mehr Besucher sammeln könnten – speziell bei Eisbären-Jungtier Finja – stehen Absperrungen und Mitarbeiter bereit. Am ersten Vormittag ist das nicht nötig, auch wenn sich einige vor den Scheiben der Eisbärenwelt abwechseln: Eisbärenmutter und Jungtier blicken mindestens ebenso neugierig zurück.
Bei Schönwetter wird es nicht ganz so entspannt laufen – Platz zum Ausweichen ist auf dem riesigen Gelände genug. Zumal die Besucherzahl beschränkt ist: Einen Timeslot zu buchen, ist jedenfalls empfehlenswert.