Neustart in Israel
Israel. Nach mehr als einem Jahr politischer Blockade wurde die neue Einheitsregierung angelobt. Die größte Regierung in der Geschichte des Landes steht vor Mammutaufgaben.
Nach mehr als einem Jahr politischer Blockade präsentierte Ministerpräsident Netanjahu seine Einheitsregierung.
Jerusalem. Für Hunderttausende israelische Schüler verhieß der Schulbeginn am Sonntag inmitten der ersten Hitzewelle des Jahres einen Neustart. Ob das auch für Benjamin Netanjahus fünfte Regierung zutrifft, ziehen viele indes in Zweifel. Israels Ministerpräsident stellte jedenfalls Benny Gantz, den neuen Vizepremier und Verteidigungsminister, auf eine harte Geduldsprobe.
Nach zahllosen Volten und taktischen Manövern, nachdem die Einigung auf eine Einheitsregierung mehrmals an der Kippe gestanden war und das Oberste Gericht ein Urteil gefällt hatte, bat Netanjahu am Donnerstag quasi in letzter Minute vor der Angelobung um einen Aufschub bis Sonntagmittag: 73 von 120 Abgeordneten stimmten gestern in einem Vertrauensvotum für das Bündnis aus Likud und Zentrums-Partei.
Die langwierige Vereidigungseremonie in der Knesset spiegelte die Vorgeschichte der Regierungsbildung. Für Gantz und seine Partner von der Arbeitspartei und den Minifraktionen war sie reibungslos verlaufen, und mit der Berufung der äthiopischstämmigen Pnina Tamano-Shato zur Immigrationsministerin gelang Gantz sogar eine Premiere und ein kleiner Coup.
Währenddessen war der Premier mit einer Mini-Revolte eines halben Dutzend Abgeordneten in seiner Likud-Partei konfrontiert. Er hatte nicht so viele Ministerposten zu verteilen, wie Anwärter ihren Anspruch erhoben. Dabei ist die 35. Regierung mit 36 Ministern und 16 Vizeministern die größte in der Geschichte des Landes, was weithin Kritik und Häme hervorrief.
Die einen wollten sich mit den ihnen zugedachten Ressorts nicht zufriedengeben, andere fühlten sich überhaupt übergangen. Avi Dichter, der frühere Chef des Inlandsgeheimdiensts Shin Bet, hatte gar damit gedroht, die Angelobung zu boykottieren. Ein Affront gegenüber den scheinbar so mächtigen Premier – und ein Vorgeschmack auf die Diadochenkämpfe der PostNetanjahu-Ära.
Netanjahu erfindet Portfolios
Benjamin Netanjahu versuchte nach Ende des Sabbats langjährige Verbündete einzubinden, und er erfand kurzerhand neue Portfolios. So rang Nir Barkat, der frühere Bürgermeister von Jerusalem, bis zuletzt um Einfluss, Rang und Ministerposten. Außer Frage standen die Besetzung des Finanz-, Polizei-, und Gesundheitsministeriums mit Netanjahu-Vertrauten wie dem Protege´ Amir Ohana, was wiederum Missgunst weckte. In der zweiten Hälfte der Legislaturperiode soll Transportministerin Miri Regev zur Außenministerin avancieren. Gilad Erdan, einen potenziellen Erben, betraute er mit der Doppelfunktion als Botschafter in den USA und der UNO – eine Bewährungsprobe.
In einem Schachzug versetzte der Premier der geschwächten und zersplitterten Opposition einen Schlag. Er lockte Rafi Peretz von der rechtszionistischen JaminaPartei mit dem Posten des Jerusalem-Ministers ins Kabinett. Mit weniger wollte sich der frühere Kampfpilot und Oberrabbiner der Armee auch nicht abfinden.
Die Verhandlungen mit Jamina-Chef Naftali Bennett, einem früheren Bürochef des Premiers und zuletzt Verteidigungsminister, zerschlugen sich indessen. Bennett hatte mit einem prestigeträchtigen Ressort spekuliert. Er gab schon die Devise aus: „Wir bereiten uns auf die Zeit nach Netanjahu vor.“
Ein Blick in diese Zukunft wird sich am kommenden Sonntag eröffnen, wenn plangemäß die wegen der Coronavirus-Krise verschobene Verlesung der Anklage im Korruptionsprozess gegen den Premierminister über die Bühne gehen soll. Als Mann der Vergangenheit – als Premier, der wegen Korruption 16 Monate ins Gefängnis gelandet war – meldete sich
Ehud Olmert in einem Kommentar in der Zeitung „Jerusalem Post“mit einer Warnung zu Wort. Sie war an Benny Gantz gerichtet, den Finessen und „mafiösen“Machenschaften Netanjahus und seiner Umgebung nicht auf den Leim zu gehen. Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit, ein früherer Mitarbeiter Netanjahus, wandte sich derweil mit Drohungen gegen seine Person an die Öffentlichkeit.
Dem Langzeit-Premier und seiner neuen Regierung stehen turbulente Zeiten ins Haus – und das nicht nur wegen einer möglichen Annexion von 30 Prozent des palästinensischen Westjordanlands, wie dies der Koalitionspakt ab Juli in den Raum stellt und Netanhjahu gestern erneut betonte. Jordaniens König Abdullah ist alarmiert.
Kampf gegen Arbeitslosigkeit
Vordringlichste Aufgaben sind die Bewältigung der Rezession mit Finanzspritzen und der Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit von rund 25 Prozent. Die Israelis sind dennoch erleichtert, dass ihnen im August zumindest die vierte Wahl innerhalb von 16 Monaten erspart bleibt – auch wenn sie der Regierung der nationalen Einheit keine allzu große Überlebenschance bis zur fixierten Machtrotation im November 2021 zwischen Netanjahu und Gantz geben.