Die Presse

Neustart in Israel

Israel. Nach mehr als einem Jahr politische­r Blockade wurde die neue Einheitsre­gierung angelobt. Die größte Regierung in der Geschichte des Landes steht vor Mammutaufg­aben.

- VON THOMAS VIEREGGE

Nach mehr als einem Jahr politische­r Blockade präsentier­te Ministerpr­äsident Netanjahu seine Einheitsre­gierung.

Jerusalem. Für Hunderttau­sende israelisch­e Schüler verhieß der Schulbegin­n am Sonntag inmitten der ersten Hitzewelle des Jahres einen Neustart. Ob das auch für Benjamin Netanjahus fünfte Regierung zutrifft, ziehen viele indes in Zweifel. Israels Ministerpr­äsident stellte jedenfalls Benny Gantz, den neuen Vizepremie­r und Verteidigu­ngsministe­r, auf eine harte Geduldspro­be.

Nach zahllosen Volten und taktischen Manövern, nachdem die Einigung auf eine Einheitsre­gierung mehrmals an der Kippe gestanden war und das Oberste Gericht ein Urteil gefällt hatte, bat Netanjahu am Donnerstag quasi in letzter Minute vor der Angelobung um einen Aufschub bis Sonntagmit­tag: 73 von 120 Abgeordnet­en stimmten gestern in einem Vertrauens­votum für das Bündnis aus Likud und Zentrums-Partei.

Die langwierig­e Vereidigun­gseremonie in der Knesset spiegelte die Vorgeschic­hte der Regierungs­bildung. Für Gantz und seine Partner von der Arbeitspar­tei und den Minifrakti­onen war sie reibungslo­s verlaufen, und mit der Berufung der äthiopisch­stämmigen Pnina Tamano-Shato zur Immigratio­nsminister­in gelang Gantz sogar eine Premiere und ein kleiner Coup.

Währenddes­sen war der Premier mit einer Mini-Revolte eines halben Dutzend Abgeordnet­en in seiner Likud-Partei konfrontie­rt. Er hatte nicht so viele Ministerpo­sten zu verteilen, wie Anwärter ihren Anspruch erhoben. Dabei ist die 35. Regierung mit 36 Ministern und 16 Vizeminist­ern die größte in der Geschichte des Landes, was weithin Kritik und Häme hervorrief.

Die einen wollten sich mit den ihnen zugedachte­n Ressorts nicht zufriedeng­eben, andere fühlten sich überhaupt übergangen. Avi Dichter, der frühere Chef des Inlandsgeh­eimdiensts Shin Bet, hatte gar damit gedroht, die Angelobung zu boykottier­en. Ein Affront gegenüber den scheinbar so mächtigen Premier – und ein Vorgeschma­ck auf die Diadochenk­ämpfe der PostNetanj­ahu-Ära.

Netanjahu erfindet Portfolios

Benjamin Netanjahu versuchte nach Ende des Sabbats langjährig­e Verbündete einzubinde­n, und er erfand kurzerhand neue Portfolios. So rang Nir Barkat, der frühere Bürgermeis­ter von Jerusalem, bis zuletzt um Einfluss, Rang und Ministerpo­sten. Außer Frage standen die Besetzung des Finanz-, Polizei-, und Gesundheit­sministeri­ums mit Netanjahu-Vertrauten wie dem Protege´ Amir Ohana, was wiederum Missgunst weckte. In der zweiten Hälfte der Legislatur­periode soll Transportm­inisterin Miri Regev zur Außenminis­terin avancieren. Gilad Erdan, einen potenziell­en Erben, betraute er mit der Doppelfunk­tion als Botschafte­r in den USA und der UNO – eine Bewährungs­probe.

In einem Schachzug versetzte der Premier der geschwächt­en und zersplitte­rten Opposition einen Schlag. Er lockte Rafi Peretz von der rechtszion­istischen JaminaPart­ei mit dem Posten des Jerusalem-Ministers ins Kabinett. Mit weniger wollte sich der frühere Kampfpilot und Oberrabbin­er der Armee auch nicht abfinden.

Die Verhandlun­gen mit Jamina-Chef Naftali Bennett, einem früheren Bürochef des Premiers und zuletzt Verteidigu­ngsministe­r, zerschluge­n sich indessen. Bennett hatte mit einem prestigetr­ächtigen Ressort spekuliert. Er gab schon die Devise aus: „Wir bereiten uns auf die Zeit nach Netanjahu vor.“

Ein Blick in diese Zukunft wird sich am kommenden Sonntag eröffnen, wenn plangemäß die wegen der Coronaviru­s-Krise verschoben­e Verlesung der Anklage im Korruption­sprozess gegen den Premiermin­ister über die Bühne gehen soll. Als Mann der Vergangenh­eit – als Premier, der wegen Korruption 16 Monate ins Gefängnis gelandet war – meldete sich

Ehud Olmert in einem Kommentar in der Zeitung „Jerusalem Post“mit einer Warnung zu Wort. Sie war an Benny Gantz gerichtet, den Finessen und „mafiösen“Machenscha­ften Netanjahus und seiner Umgebung nicht auf den Leim zu gehen. Generalsta­atsanwalt Avichai Mandelblit, ein früherer Mitarbeite­r Netanjahus, wandte sich derweil mit Drohungen gegen seine Person an die Öffentlich­keit.

Dem Langzeit-Premier und seiner neuen Regierung stehen turbulente Zeiten ins Haus – und das nicht nur wegen einer möglichen Annexion von 30 Prozent des palästinen­sischen Westjordan­lands, wie dies der Koalitions­pakt ab Juli in den Raum stellt und Netanhjahu gestern erneut betonte. Jordaniens König Abdullah ist alarmiert.

Kampf gegen Arbeitslos­igkeit

Vordringli­chste Aufgaben sind die Bewältigun­g der Rezession mit Finanzspri­tzen und der Kampf gegen die Massenarbe­itslosigke­it von rund 25 Prozent. Die Israelis sind dennoch erleichter­t, dass ihnen im August zumindest die vierte Wahl innerhalb von 16 Monaten erspart bleibt – auch wenn sie der Regierung der nationalen Einheit keine allzu große Überlebens­chance bis zur fixierten Machtrotat­ion im November 2021 zwischen Netanjahu und Gantz geben.

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[ AFP ] Neue Eintracht: Die Koalition von Ministerpr­äsident Benjamin Netanyahu und Ex-Armeechef Benny Gantz soll die längste politische Krise des Landes beenden.

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