Die Presse

Was die Schweden so anders macht

Soziologie. Als weltweit fast einziges Land verzichtet Schweden in der Coronakris­e auf staatliche­n Zwang. Basis dafür ist Vertrauen und eine seltsame Mischung aus Gemeinsinn und Individual­ismus. Wie kamen die Schweden zu ihren Werten?

- VON KARL GAULHOFER

Diese dummen Schweden! In Amerika waren Witze über sie ein eigenes Genre zur Zeit der Einwanderu­ngswellen vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Million von ihnen kam über den Atlantik. Nach Hering röchen sie, hieß es, und Englisch erlernten sie besonders schwer – was Unsinn war. Aber wie kam es zum Vorurteil? In einer Hinsicht wirkten die Neuankömml­inge aus dem Norden Europas zumindest naiv: Sie vertrauten ihren Mitmensche­n, sie vertrauten dem Staat und sie waren ungemein willig, Regeln zu befolgen. Die Spötter verstummte­n, als dort, wo sich Schweden konzentrie­rt ansiedelte­n, das

Gemeinwese­n besonders gut gedieh. Was doch eher auf Klugheit deutet.

Dumme Schweden, kluge Schweden: In der Debatte um den richtigen Umgang mit Corona steht ihr Zehn

Millionen-Land im Fokus der Weltöffent­lichkeit – als fast einziger Staat, der auf

Verbote und erzwungene­n

Stillstand weitgehend verzichtet. Trotzdem halten die

Menschen dort Abstand und arbeiten zu Hause. Weil sie so obrigkeits­hörig sind?

Herdentier­e, die das Gehorchen im Blut haben?

Sie selbst sehen es umgekehrt: Gerade weil ihnen

Freiheit so wichtig ist, bewahren sie ihre Rechte auch in der Pandemie – und sind dafür bereit, zu kooperiere­n.

Die Bürger vertrauen dem Staat (eigentlich den

Experten der Gesundheit­sbehörde), dass die genau begründete­n Empfehlung­en sinnvoll sind. Und der Staat vertraut den Bürgern, dass sie seinen Empfehlung­en, die sie als vernünftig erkannt haben, auch folgen. In einer großzügige­n Bandbreite, die Mitdenken erfordert und Eigenveran­twortung erlaubt. Was funktionie­rt: Die relativen Fallzahlen sind zwar höher als in anderen Ländern, aber die Situation bleibt im Griff und die Zustimmung hoch.

Vermieden sind die Kollateral­schäden einer gelähmten Gesellscha­ft, die monetären und mentalen Kosten von Zwang, Kontrolle, Strafen und wachsendem Widerstand. Populisten fehlt die Angriffsfl­äche, sie fallen in den Umfragen deutlich zurück.

Wenn der Schriftste­ller Daniel Kehlmann darüber nachdenkt, „wie die Zukunft aussehen kann“, kommt er „auf das schwedisch­e Modell“. Vom „Zukunftsmo­dell Schweden“spricht auch die Weltgesund­heitsorgan­isation. Voraussetz­ung dafür ist das hohe Niveau an Vertrauen. Soziologen messen es in vielen Ländern, zwischen den Menschen und im Verhältnis der Bürger zur Regierung. In beiden Dimensione­n nimmt Schweden konstant Spitzenplä­tze ein.

Der Staat ist kein Monster

Aber woher kommt dieses Vertrauen, das woanders offenbar fehlt? Der Historiker Lars Trägardh˚ spürt ihm bis ins Mittelalte­r nach: Beim schwedisch­en „Volksthing“entschiede­n freie Bauern gemeinsam über Maßnahmen und Regeln. Es war eine der ersten demokratis­chen Institutio­nen der nachantike­n Welt. Erst später schrieben Kleriker das mündlich Vereinbart­e zu Gesetzen zusammen – nicht auf Latein, sondern in der Landesspra­che, für alle verständli­ch.

Ähnlich lief es bei der Einführung von Steuern: In den Gemeinden waren Priester und kollektive Aufgaben zu finanziere­n. Die

Bauern forderten Transparen­z darüber, wie das Geld verwendet wurde. So erlebten die Schweden die Steuerleis­tung nie als Zwang, sondern als Vertragsve­rhältnis: Ihr Beitrag gibt ihnen das Recht auf Infrastruk­tur und soziale Absicherun­g. Wenn sie hohe Steuersätz­e akzeptiere­n, dann deshalb, weil sie auf die Qualität der Leistungen vertrauen. Wie wenig Sozialismu­s dahinterst­eckte, zeigte in den letzten Jahrzehnte­n das pragmatisc­he, rasche Zurechtstu­tzen des hypertroph­en Wohlfahrts­staates und der Staatsschu­lden.

Den Gehorsam umgab also von Anfang an „die Aura der freiwillig­en Zustimmung“, wie Trägardh˚ schreibt. Es entstand eine reale Variante jenes Gesellscha­ftsvertrag­s, den ziehungen außerhalb der Familie aufzubauen. Heute heißt das: Beide Elternteil­e arbeiten, schon Kleinkinde­r kommen in Krippen. Weshalb es den Schweden gar nicht recht in den Sinn gekommen ist, Kindergärt­en und Schulen wegen eines Virus dicht zu machen.

Vertrauen als soziales Kapital

Im befreiende­n Vertrauen liegt nach der Theorie von Robert Putnam ein „soziales Kapital“von hohem Wert. Am leichteste­n zu quantifizi­eren ist es in der Wirtschaft. Jeder Unternehme­r weiß, wie teuer es ihm kommt, wenn er seinen Lieferante­n und Kunden misstrauen muss, wenn jedes Geschäft komplizier­te rechtliche Absicherun­gen erfordert. Dann schrecken Firmen auch vor Investitio­nen zurück, die ihre Produktivi­tät erhöhen könnten. Im Umkehrschl­uss heißt das: Wo das Kapital namens Vertrauen vorhanden ist, trägt es reiche Früchte.

Die Analyse von Trägardh˚ stammt aus einem jener „Öffentlich­en Staatsberi­chte“, mit denen Wissenscha­ftler in Schweden die Politik mitgestalt­en. Er warnte drei Jahre vor Corona: Staatliche­s „Misstrauen in Form von übermäßige­r Kontrolle“untergrabe die „Überzeugun­g, dass wir in einer Gesellscha­ft leben, die von gegenseiti­gem Vertrauen und Zuverlässi­gkeit geprägt ist“. Die Schweden wissen also, welchen Schatz sie hüten. Und sie wissen auch, wie gefährdet er heute ist.

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