Wo Politik an strafrechtliche Grenzen stößt
Gastkommentar. Es braucht eine Political Judgement Rule: Politiker müssen als Spitzenbeamte keine Strafe fürchten, sofern sie nur sachlichen Überlegungen folgen.
Wien. „Das Recht muss Politik folgen, nicht Politik dem Recht“(© Herbert Kickl) – oder hat die Politik dem Recht zu folgen? Oder könnte schon die (Entwederoder-)Fragestellung falsch sein? Der damalige Innenminister traf seine viel kritisierte Ansage vor einer gefühlten Ewigkeit in Zusammenhang mit Asylfragen. Angesichts des Regierungshandelns in der Coronakrise betrifft diese Fragestellung nicht mehr bloß Randgruppen, sondern die Bevölkerung als Ganzes. Unsere Rechtsmeinung soll vorab kurz gesagt sein: Die Politik macht die Gesetze, sie steht aber nicht über den Gesetzen! Hier fehlt es österreichischen Spitzenpolitikern in Regierungsfunktion durchwegs noch am (richtigen) Selbstverständnis.
Die Mitglieder der Bundesregierung üben im Regelfall zwei „Ämter“aus: In ihrer Regierungsfunktion sind sie unter anderem als oberste Organe der Bundesverwaltung berufen, geltendes Recht zu vollziehen. Werden sie in Vollziehung der Gesetze, also hoheitlich tätig, gelten sie funktional als (Spitzen-)Beamte. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie Verordnungen bzw. Bescheide erlassen oder Weisungen im Zusammenhang mit Hoheitsakten erteilen. Der Oberste Gerichtshof betrachtet in Fragen der Amtshaftung eine breite Palette typisch staatlicher Aufgaben, auch „Informationsrealakte“(also Pressekonferenzen), als Vollziehung der Gesetze.
In diesen Fällen handeln (Spitzen-)Politiker unter anderem als (Spitzen-)Beamte und können daher bei wissentlichem Missbrauch ihrer Amtsbefugnisse das Delikt des Amtsmissbrauchs nach § 302 StGB verwirklichen. Hier hat die Politik dem Recht zu folgen.
Amtsmissbrauch: nur Beamte
Daneben gibt es bestimmte Regierungsakte, in welchen (Spitzen-) Politiker in Regierungsfunktion nicht als Beamte agieren. Mangels funktionaler Beamteneigenschaft kommt dann Amtsmissbrauch nicht in Betracht. Dazu gehört z. B. das Recht der Bundesregierung, Initiativanträge für Gesetzesvorhaben zu stellen. In diesem Beispiel folgt das Recht der Politik.
Die Regierungsmitglieder sind parallel zu ihrem Regierungsamt in der Regel aber auch als Parteifunktionäre tätig. Als solche dürfen und sollen sie ihre politischen Agenden verfolgen. Die verschiedenen Rollen – hoheitliche versus (partei-)politische Funktion und Tätigkeit – werden aber nicht immer sauber getrennt. Die gesamte Verwaltung darf nur aufgrund der
Gesetze ausgeübt werden (Art 18 B-VG). Dazu gehört auch das Verwaltungshandeln der Mitglieder der Bundesregierung. Gesetze haben so bestimmt zu sein, dass das Verwaltungshandeln vorhersehbar und kontrollierbar ist, sehen aber regelmäßig auch Ermessensspielräume vor. Das ist aber kein Freibrief für Willkür.
Inwieweit auch (partei-)politisches Gutdünken beim Ausüben des Ermessens eine Rolle spielen darf, wird in Österreich – auch fachliterarisch – nicht wirklich diskutiert. Dabei zeigt gerade die aktuelle Krisensituation die Notwendigkeit auf, zwischen Gesetzesvollzug und Parteipolitik klar zu trennen.
Das Handeln von Politikern in Spitzenfunktionen der Bundesregierung – aber auch der Landesund Gemeindeverwaltung (Stichwort Ischgl) – in der Krise wird zunehmend lauter kritisiert. Die rechtliche Aufarbeitung hat bereits begonnen: Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) prüft die Gesetzmäßigkeit von Verordnungen, wobei der Bevölkerung aus der Sphäre der Bundesregierung mit gewissem Augenzwinkern vermittelt wird, dass man sich das sparen könne – bis der VfGH entscheide, sei die Verordnung ohnehin längst außer Kraft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt zu Ischgl aufgrund des Verdachts der Gefährdung von Menschen mit übertragbaren Krankheiten – hier beruft sich die Landesund Gemeindepolitik weniger vollmundig als die Kollegen im Bund auf die Einzigartigkeit der Krise.
Das Verfassungsrecht sieht für Fehlverhalten von Spitzenpolitikern in Regierungsfunktion des
Bundes auf der persönlichen Ebene politische und rechtliche Folgen (Misstrauensvotum, Ministeranklage wegen schuldhafter Rechtsverletzung) vor. Beides ist jedoch abhängig von politischen Mehrheiten antiquiert konzipiert und damit realpolitisch ein papiernes Damoklesschwert.
Das Handeln der Politiker als Beamte in Vollziehung der Gesetze ist aber nicht nur verfassungsrechtlich und politisch, sondern auch am Maßstab des § 302 StGB (Missbrauch der Amtsgewalt) zu messen. Soweit das Gesetz den Spitzen der Verwaltung Ermessensspielräume einräumt, sind diese in Krisenzeiten gewiss großzügiger zu bemessen. Trotzdem ist Ermessen stets gesetzmäßig und nicht (partei-)politisch auszuüben. Auch Untätigkeit kann wissentlicher Befugnismissbrauch und damit strafbar sein, etwa beim Unterlassen des gebotenen Vorgehens nach dem Epidemiegesetz.
Stets Risiko des Scheiterns
Es darf dabei aber nicht übersehen werden, dass Entscheidungen stets das Risiko des Scheiterns in sich tragen und auch Politiker nicht schlechterdings für den unvorhersehbaren Erfolg oder Misserfolg einer Maßnahme als Sündenbock einzustehen haben. Dieselbe Diskussion wurde bereits im Zusammenhang mit dem Untreuetatbestand (§ 153 StGB) geführt. Dieser ist dem Tatbestand des Amtsmissbrauchs vergleichbar aufgebaut: In beiden Fällen ist die Tathandlung der wissentliche Missbrauch einer Entscheidungsbefugnis, bei der Untreue verbunden mit vorsätzlicher Vermögensschädigung, beim Amtsmissbrauch verbunden mit dem Vorsatz, einen anderen dadurch an seinen Rechten zu schädigen. Bei der Untreue wurde mittlerweile die kluge „Faustregel“der Business Judgement Rule gesetzlich festgeschrieben: Straffrei ist jedenfalls, wer sich bei einer unternehmerischen Entscheidung nicht von sachfremden Interessen leiten lässt und auf der Grundlage angemessener Information annehmen darf, zum Wohle des Geschäftsherren zu handeln.
Das lässt sich sehr naheliegend auf das Handeln der Spitzen der Verwaltung in Vollziehung der Gesetze (im Tagesgeschäft wie auch in der Krise) übertragen. Im Ergebnis bedeutet das, dass ein Politiker in der Funktion eines (Spitzen-)Beamten keine Strafe zu befürchten hat, wenn er sich bei einer Ermessensentscheidung nicht von sachfremden Interessen leiten lässt und auf Basis angemessener Information annehmen darf, gesetzmäßig zu handeln. Insbesondere auch dann, wenn sich die Entscheidung im Nachhinein als krasse Fehlentscheidung erweisen sollte.
Mit einer derartigen Political Judgement Rule ließen sich Unterlassungen in Ischgl ebenso wie Handlungen im Bund transparent auf ihre strafrechtliche Relevanz prüfen, ohne dabei den Spitzenpolitikern mehr abzuverlangen als jedem anderen Funktionsträger der Verwaltung bzw. Geschäftsleiter der Privatwirtschaft.