Die gestrandeten Leihmutterbabys von Kiew
Ukraine. Dutzende Säuglinge können nicht in Empfang genommen werden. Ein Test für die boomende Fertilitätsbranche – und die Nerven der Eltern.
Moskau/Kiew. Über Videokonferenz treten die Eltern mit ihrem Tausende Kilometer entfernten Neugeborenen in Kontakt. Sie bestellen das virtuelle Treffen mit dem Baby bei den Mitarbeitern der Kiewer Firma zu einer von ihnen gewählten Tageszeit: vor der Arbeit, nach der Arbeit, in der Mittagspause. Die Krankenschwester hält das Baby in die Kamera und beantwortet die drängendsten Fragen: Nimmt es an Gewicht zu? Welche Regungen zeigt es? Schläft es gut? Dann wird der Säugling zurückgelegt in sein Bett im Saal des Kiewer Hotels Venice. Es ist ein Saal, in dem ein Bettchen neben dem anderen aufgereiht ist, insgesamt 40. Ein Riesenkinderzimmer, in dem immer irgendjemand schreit. Hier warten die Babys, die von Leihmüttern im Auftrag der ukrainischen Firma Biotexcom geboren wurden und von ihren Eltern derzeit nicht abgeholt werden können.
Normalerweise ist das Venice am Rand der Kiewer Unterstadt Podil ein Ort, wo ausländische Paare auf die Niederkunft der Leihmütter warten. Doch seit dem Ausbruch der Pandemie gibt es für die boomende Reproduktionsbranche der Ukraine keinen Geschäftsalltag mehr. Mitte März schloss die Regierung in Kiew die Staatsgrenzen und setzte den Flugverkehr aus. Ausländer, die Hauptkunden ukrainischer Leihmütter, können seither nicht mehr in das Land einreisen. Insgesamt soll es im Land rund hundert nicht abgeholte Leihmutterbabys geben.
Die Covid-Krise hat die Geschäftsprinzipien einer global operierenden Branche durchgekreuzt. Die Mobilität der Kunden, die zur
Erfüllung ihres Kinderwunsches zu hohen finanziellen Ausgaben bereit sind, war bisher eine unhinterfragte Grundvoraussetzung. Es ist eine Industrie, die normalerweise diskret mit Klienten und Behörden kommuniziert. Doch weil sich die Lage mit den gestrandeten Babys zuspitzte, ging die Firma Biotexcom Ende April an die Öffentlichkeit. „Es ist herzzerreißend zu sehen, wie sehr die Eltern ihre Kleinen vermissen“, heißt es darin.
Viele weitere Babys erwartet
Biotexcom ist der ukrainische Marktführer und nimmt „ohne Übertreibung“etwa zwei Drittel des Markts ein. Das erklärt Denis Herman, von der Firma beauftragter Rechtsanwalt, im Gespräch mit der „Presse“. Herman warnt, dass sich die Zahl der wartenden Neugeborenen – sollte keine unbürokratische Lösung gefunden werden – weiter erhöhen wird. „Etwa jeden Tag bringt eine Leihmutter im Auftrag unserer Klinik ein Kind zur Welt“, sagt der 25-Jährige. Bis Ende Juni wären das allein bei Biotexcom mehr als 30 weitere Kinder.
Eine leichte Entspannung deutet sich ab Freitag an: Die Regierung in Kiew beschloss die Grenzöffnung zu den EU-Nachbarstaaten Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien und zur Republik Moldau. Flugverbindungen mit dem Ausland wird es aber bis Mitte Juni weiterhin so gut wie keine geben.
Die ukrainische Ombudsfrau für Menschenrechte, Ljudmila Denisowa, hat sich indes der Babycausa angenommen. Trotz harscher Kritik an den Praktiken – in einer ersten Reaktion sprach sie von „Kinderhandel“und drohte mit Gesetzesverschärfungen – will sie nun zwischen ukrainischen Behörden und ausländischen Paaren vermitteln. Denn notwendig für die Einreise der Eltern ist eine offizielle Anfrage des Herkunftslands, die dem Außenministerium in
Kiew vorliegen muss. Mehr als ein Dutzend Paare sind so auf teilweise abenteuerlichem Weg in die Ukraine gelangt. Einem schwedischen Paar namens Andreas und Maria stellte ein anonymer Spender einen Privatjet zur Verfügung.
Wie das Außenministerium in Wien gegenüber der „Presse“bestätigt, gibt es „einige wenige“Fälle von österreichischen Wunscheltern. Sie würden in Sachen Einreisegenehmigung unterstützt.
15.000 Euro für Leihmutter
Die Hauptkunden der Leihmuttergeburten sind heterosexuelle Paare aus den USA, Argentinien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und China. Die Ukraine hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Zentrum der reproduktiven Dienstleistung entwickelt. Das hat mehrere Gründe: Das Land ist für Europäer leicht erreichbar; die Einreise ist – anders als etwa bei Mitbewerber Russland – visumfrei und das Angebot mit rund 50.000 Euro vergleichsweise günstig.
Die Summen, die die Wunschkinderkliniken im Jahr umsetzen, gehen in Millionenhöhe. Die Leihmutter erhält nur einen geringen Teil: einen als „Kompensation“bezeichneten Betrag von 15.000 Euro. „Ich würde flunkern, wenn ich behauptete, dass die Frauen kein Interesse am Geld haben“, sagt Herman. „Aber sie verstehen natürlich den Kinderwunsch anderer Paare.“Ukrainische Leihmütter müssen laut Gesetz eigene Kinder haben; und sie dürfen nur fremdes Biomaterial austragen.
In dem von Krieg und Wirtschaftskrise betroffenen Land ist Leihmutterschaft vor allem für Frauen aus Dörfern und Kleinstädten eine Option. Bei einem Durchschnittslohn von 250 Euro pro Monat müsste eine Frau fünf Jahre lang arbeiten gehen, um die von Biotexcom und anderen Firmen gebotene Summe zu verdienen.