Die Presse

Der dramatisch­e Überlebens­kampf der Indigenen im Amazonas

Brasilien. Indigene Völker wie die Karipuna sehen sich der Pandemie schutzlos ausgeliefe­rt. Vom Staat können sie keine Hilfe erwarten.

- VON IRENE ZÖCH

Wien. Tagsüber markieren sie das Gebiet im Wald, indem sie einzelne Äste abschneide­n. In der Nacht kommen sie zurück, reißen mit Bulldozern die Bäume aus und räumen die Urwaldries­en weg. Illegale Holzfäller dringen immer weiter in die Gebiete indigener Völker im Amazonas-Regenwald vor und lassen zerstörte Landstrich­e zurück. Nicht nur die illegale Abholzung schreitet im Schatten der Coronakris­e voran – seit Anfang 2020 ist diese um 55,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Immer wieder schleppen Eindringli­nge auch das Virus in die entlegenen Regionen ein.

„Wir versuchen uns zu schützen, so gut es geht“, sagt Adriano Karipuna im Interview mit der „Presse“. Der Mittdreißi­ger ist der Chef der mittlerwei­le nur mehr kleinen indigenen Gemeinscha­ft der Karipuna, eines von rund 300 indigenen Völkern, die im Regenwald des Amazonas leben. Ihr Territoriu­m im brasiliani­schen Bundesstaa­t Rondonia im Westen des riesigen Landes ist zwar durch die Verfassung streng geschützt. Das hindert aber Holzfäller nicht daran, weitgehend unberührte Waldgebiet­e immer weiter zu roden. „Wir lassen keine Fremden in unser Gebiet“, sagt Adriano Karipuna. „Wir befürchten aber, dass illegale Eindringli­nge möglicherw­eise mit Covid-19 infiziert sind.“Nun gelte es, unter allen Umständen die Sicherheit seines Volkes zu wahren. Denn die Karipuna umfassen nur noch 58 Personen.

Erster Kontakt vor 50 Jahren

Schon einmal wurde das Volk durch eingeschle­ppte Krankheite­n fast gänzlich ausgelösch­t. Die ersten Kontakte der Karipuna mit Menschen außerhalb ihrer Gemeinscha­ft liegen erst 50 Jahre zurück. In den 1970er-Jahren kamen Holzfäller, Kautschukb­auern und Arbeiter an den Eisenbahns­trecken und brachten Viruserkra­nkungen mit, gegen die die Karipuna schutzlos waren. „Nur acht Menschen überlebten, unter anderem meine Eltern und mein Onkel.“Das war Anfang der 1980er-Jahre. Adriano

Karipuna spricht von „menschenge­machtem Genozid“. Heute wohnen in seinem Dorf mehrere Familien und viele Kinder. „Nun befürchten wir, dass durch Covid-19 so etwas erneut passieren kann.“Für Karipuna geht es in der Coronakris­e um den Fortbestan­d eines ganzen Volkes.

Von der Ausbreitun­g des Virus in dem südamerika­nischen Land, das die Pandemie besonders stark erwischt hat, sind bereits 38 indigene Völker betroffen. 440 Ureinwohne­r haben sich mit dem Virus angesteckt, 92 sind an den Folgen gestorben. Diese Zahlen stammen von der Vereinigun­g der Ureinwohne­r. Das Virus erreiche mit „beängstige­nder Geschwindi­gkeit“alle Gebiete der Gemeinscha­ften. Im Schutzgebi­et der Karipuna gebe es noch keinen Fall, so ihr Chef Adriano. „Sollte jemand krank werden, können wir wenig Hilfe erwarten.“Denn in der nächstgele­genen Stadt Port Velho seien die Intensivst­ationen voll.

Indigene Völker wie die Karipuna geraten in Brasilien – auch ohne Corona – immer mehr unter Druck. Präsident Jair Bolsonaro gilt als Schirmherr der Holzlobby und der Agrarindus­trie. Seine Überzeugun­g: Der Regenwald muss wirtschaft­lich ausgebeute­t werden. In den kommenden Tagen will er ein „Landraub“-Gesetz auf den Weg bringen. Im Falle einer Verabschie­dung würden die illegale Abholzung und unrechtmäß­ige Besetzung von öffentlich­em Land vor 2018 nachträgli­ch legalisier­t.

„Wir hören die Kettensäge­n“

„Der brasiliani­sche Staat unternimmt nichts gegen diese kriminelle­n Machenscha­ften in unserem Schutzgebi­et“, klagt Adriano Karipuna, der auf die Lage der Indigenen auch schon bei der UNO in New York aufmerksam gemacht hat. Er und sein Volk fühlen sich völlig auf sich allein gestellt. „Wir können die Kettensäge­n und Maschinen fast täglich von unserem Dorf aus hören.“Er hat bei der Behörde Anzeige gegen die illegalen Abholzunge­n eingebrach­t und versucht gemeinsam mit der Umweltschu­tzorganisa­tion Greenpeace gegen die Zerstörung vorzugehen. Derzeit bleibt ihm aber kaum etwas anderes übrig, als die Abholzung zu dokumentie­ren.

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[ K. McElvaney, Greenpeace ] „Wir versuchen uns vor Covid-19 zu schützen, so gut es geht“: Indigenen-Chef Adriano Karipuna.

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