„Es braucht ein ,Whatever it takes‘ aus der Politik“
Interview. Chefökonom der ING-Bank Carsten Brzeski sieht den Euro vor einer Zerreißprobe.
Die Presse: Coronakrise, dann Wirtschaftskrise, kommt auch noch die Eurokrise?
Carsten Brzeski: Jein. Nicht so wie 2012, weil keine Euro-Schuldenkrise droht, was viele denken.
Nicht? Aber die Schulden der Staaten steigen doch! In Österreich liegt die Schuldenquote bei 78,8 Prozent.
Ja, aber anders als 2010/2012 gibt es genug Instrumente, um trotz steigender Schulden kein Liquiditätsproblem zu bekommen. Denn die Liquiditätsprobleme wurden zur Euro-Schuldenkrise. Damals gab es noch keine Europäische Zentralbank (EZB) mit einem „Whatever it takes“-Ansatz im Markt. Es gab auch noch keinen ESM (Europäischen Stabilitätsmechanismus, Anm.).
Warum sind Schulden kein Problem?
Weil sie extrem niedrig sind. Der Staat ist kein Privathaushalt und muss seine Schulden nicht unbedingt zurückzahlen.
Das ist eine gewagte Aussage.
Ja, aber der Staat muss in so einer Situation vor allem für Liquidität sorgen und seine Zinsen bezahlen. Und wenn die Zinsen so niedrig sind wie jetzt, dann sind Schulden überhaupt kein Problem. Zwar steigt die Staatsverschuldung wieder, aber diesmal setzt die Europäische Kommission, anders als 2012, die Regeln des Stabilitätspakts aus. Die Drei-Prozent-Regel wird ausgesetzt. Der ESM gibt Kredite, ohne eine einmarschierende Troika wie 2012, sondern zu wirklich günstigen Konditionen. Wird das Geld für Corona gebraucht, bekommt man vom ESM eine billige Kreditlinie bis zu zwei Prozent vom BIP.
Aber? Sie sprachen von einem Jein.
Aber es wird große Wachstumsunterschiede geben, weil die wirtschaftlichen Auswirkungen und die fiskalpolitischen Maßnahmen zwischen Nord und Süd unterschiedlich sind. Nach dem Tiefpunkt der Krise werden sich große wirtschaftliche Unterschiede zeigen, die wiederum zu politischen Spannungen führen. Dann werden Europa und der Euro wieder zum Sündenbock. Südeuropa beschwert sich über die mangelnde Solidarität. Nordeuropa beschwert sich darüber, dass die EZB die Zinsen so günstig hält, nur um den südeuropäischen Ländern zu helfen, aber gleichzeitig das Spargeld von Deutschen, Österreichern und Niederländern wegnimmt. Das kann in einer Post-Covid-19-Phase den Anti-Europa-Populisten wieder schnell Zulauf geben. Darüber kommt die Eurokrise zurück.
Wie kann das verhindert werden?
Das Durchwurschteln wird nicht mehr funktionieren. Beide Seiten müssen sich entscheiden. Ist der Süden bereit, für mögliche Transfers aus dem Norden nationale Souveränität aufzugeben, also strukturelle Reformen aufgedrückt zu bekommen. Ist der Norden bereit, Transfers zu machen und sogar Schulden abzuschreiben, oder wenn nicht, zähneknirschend eine EZB zu haben, die für sehr lange Zeit die Zinsen niedrig hält.
Jedes Land hat seine eigenen Corona-Maßnahmen gesetzt. Das Virus betrifft aber alle Länder.
Warum wurden keine gemeinsamen Entscheidungen getroffen?
Wenn bei einem Flugzeug in Turbulenzen die Atemmasken herunterfallen, soll man erst sich selbst helfen und dann den anderen.
Hilft der deutsch-französische Vorschlag für den EU-Wiederaufbaufonds?
Ja. Die Transfers bringen Geld nach Südeuropa, und das hilft dort mit den Schulden. Das würde über die Kluft zwischen Nord und Süd hinweghelfen, indem der Norden Solidarität zeigt. Denn nur günstige Kredite zu geben ist zu wenig. Der Fonds ist aber noch keine gemachte Sache.
Es müssen erst alle EU-Länder einstimmig abstimmen.
In Österreich hat man die Reaktionen von Bundeskanzler Sebastian Kurz gesehen. Auch andere nordische Länder zeigen sich kritisch. Da wird es noch Verhandlungen geben. Dabei könnte sich die Balance zwischen Transfers und Krediten noch ändern. Der Fonds sieht wahrscheinlich erst Anfang 2021 das Tageslicht. Je nachdem, wie er ausgestaltet ist, wird es noch einmal sechs bis zwölf Monate dauern, bis man Wachstum sieht.
Das ist ziemlich spät.
Es wäre wahrscheinlich sinnvoller gewesen, den südeuropäischen Staaten so deutliche Rückendeckung zu geben, dass jetzt schon agiert werden kann. Nun vergeht unheimlich viel Zeit.
Wie lang wird es dauern, bis wir wieder auf dem Niveau von vor der Coronakrise sind?
Mindestens zwei Jahre. Europa als Ganzes wird bis 2023 brauchen.
Ist das nicht die ultimative Zerreißprobe für den Euro?
Sehr wahrscheinlich ja. In Deutschland denkt man, dass man als stärkstes Land aus der Krise kommen wird. Das wird wahrscheinlich auch so sein. Aber man vergisst, dass Deutschland seit Mitte 2018 in der Stagflation sitzt. Viele nordische Länder, die aus der Krise herauskommen werden, haben keine Garantie, dass es mit den Wachstumsunterschieden so weitergehen wird. 2008/09 hatten wir die Asiaten, die kaum von der Finanzkrise betroffen waren. Deren Wachstumsmodell sah damals den Kauf von Investitionsgütern in Europa und vor allem in Deutschland vor. Dadurch stieg der Export nach China. Diesen Kanal sehe ich aktuell nicht, weil die ganze Welt davon betroffen ist.
Übersehen wir gerade etwas, um die Krise besser zu überstehen?
Es fehlt das Zugeständnis von Transfers. Ein braucht ein „Whatever it takes“aus der Politik.
Wurde etwas aus der Krise gelernt?
In Deutschland hat man gelernt, die Diskussion um die schwarze Null komplett fallen zu lassen. Das ist etwas Positives. Die Kehrtwende von schwarzer Null auf die größten Rettungspakete der Welt hätten wenig Experten erwartet. Das Negative ist: Obwohl es sich um einen Schock von außen handelt, herrschen doch nationale Reflexe vor.