Dieser Wiederaufbau klappt nur gemeinsam
Gastkommentar. Der Regierung und allen, die seit Anfang März die richtigen Maßnahmen gegen das Coronavirus umgesetzt haben, ist zu danken. Aber jetzt, da die Infektionszahlen sehr niedrig sind, darf Manöverkritik erfolgen.
Die furchtbaren Bilder aus Italien, Spanien, Frankreich und den USA mit Zehntausenden Toten, Massengräbern und restlos überfordertem Krankenpersonal sind uns erspart geblieben. Jeder, der sich im Krisenmanagement auskennt, sollte die Leistungen von Bundeskanzler Kurz, Vizekanzler Kogler, Gesundheitsminister Anschober und allen Verantwortlichen würdigen. Aber jetzt, da die Infektionszahlen sehr niedrig sind, darf eine Manöverkritik erfolgen. Wichtig ist es, Fehler der Vergangenheit zu erkennen und nicht zu wiederholen:
Ein Kardinalfehler war wohl die Abschaffung der Generaldirektorin für öffentliche Gesundheit im Gesundheitsministerium durch die blau-schwarze Regierung 2018 (nicht auszudenken, wenn Hartinger-Klein und Kickl dem CoronaKrisenstab angehört hätten – Ibiza war wahrlich ein „Glücksfall“). Damit fehlte dem Gesundheitsministerium jene kompetente Abteilung, die verhindert hätte, dass Verordnungen widersprüchlich und oft spät herausgekommen sind. Warum lässt man zum Beispiel die Oberstufe der AHS bis Juni zu Hause, um sie dann gerade einmal für zehn Schultage in die Schule zu schicken? Warum wurden die Verhaltensregeln für Gasthäuser so spät veröffentlicht? Warum waren wir eines der letzten Länder mit einer Regelung für Profi-Fußball, und warum kommt eine Strategie zur Rettung der Kulturbetriebe, Künstler und Veranstaltungen so spät?
Wo bleibt die Kooperation?
Warum funktioniert in einer so schweren Krise die Kooperation zwischen Regierung und Opposition (SPÖ und Neos) nicht besser? Es sind zumeist konstruktive Vorschläge, die weitestgehend ignoriert werden: Verfassungswidrige Verordnungen sollten rasch in Ordnung gebracht werden und die Erhöhung des Arbeitslosengeldes von 55 auf 70 Prozent sollte im Versprechen der Regierung, „Koste es, was es wolle“, Platz finden, um zwei Beispiele zu nennen. Bei einer Krise dieses Ausmaßes braucht es mehr Zusammenarbeit aller positiven Kräfte, nicht unbedingt in einer Konzentrationsregierung, aber zumindest in einem Krisenstab, um sicherzustellen, dass Information und Kommunikation funktionieren, alle auf demselben Informationsstand sind und die bestmöglichen Ideen zum Wohle Österreichs zum Tragen kommen. Ist der Hass auf „die Sozis“so groß, dass man es sich leisten kann, eine Expertin wie Pamela Rendi-Wagner außer Acht zu lassen?
In der Gesundheitskrise glauben wir, das Schlimmste überstanden zu haben. Wir fürchten zwar eine zweite Infektionswelle, aber wir übersehen die Konsequenzen des Lockdown: Es könnten in Österreich mehr Menschen aufgrund der Isolation an Depressionen, psychischen Problemen und Suizid, an unbehandelten Krankheiten, verschobenen Operationen oder den Folgen der explodierenden Arbeitslosigkeit sterben als am Virus selbst.
Sündenböcke gesucht . . .
Hunderttausende zusätzliche Arbeitslose gibt es bereits; wenn die Dinge falsch laufen, werden es bis zu 30 Prozent der Unternehmen nicht schaffen, wieder aufzusperren. Das könnte dazu führen, dass die Hälfte der Kurzarbeiter und -innen bis zum Jahresende arbeitslos werden. Es gäbe dann 1,2 Millionen Arbeitslose in Österreich!
Aus all dem könnte eine massive soziale und politische Krise entstehen. Betroffen sind nämlich besonders die Einkommensschwachen, die Familien, die Alleinerziehenden, aber auch Mindestlohnbezieher, die unverschuldet in die Krise gerieten. Solche Entwicklungen können zu sozialen Spannungen führen. Bereits jetzt häufen sich die Verschwörungstheorien. Und es werden Sündenböcke gesucht: die Reichen, die Ausländer, Bill Gates, die 5G-Entwickler . . .
Ein schlummerndes Problem, das momentan an Aktualität verloren hat – die Asylsuchenden und Flüchtlinge – könnte wieder akut werden, wenn die Arbeitslosigkeit nicht in den Griff zu bekommen ist. Hier müssten jene politischen Kräfte, die bisher verstärkt für eine humane und menschenrechtskonforme Behandlung der Flüchtlinge eingetreten sind, Vorschläge entwickeln, um die offene Frage der bereits in Europa anwesenden zwei Millionen Menschen nachhaltig zu lösen. Diese sind nämlich weitestgehend arbeitslos. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis rechtsextreme Gruppen dieses Problem verwenden, um politisches Kleingeld zu sammeln. Es müsste dringend daran gearbeitet werden, Flüchtlingen, die in Europa kaum eine Chance auf Integration haben, eine menschenwürdige Rückkehr zu ermöglichen. Dazu wäre eine europäische Initiative möglicherweise sogar in Kooperation mit Russland und anderen Partnern erforderlich, und es brauchte dafür jede Menge Geld!
Viel Geld investiert Österreichs Regierung zweifellos, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Es ist erstaunlich, dass sich Kurz und sein Finanzminister Blümel nun in Kreiskys Fußstapfen bewegen und seinem Motto folgen: „Besser Milliarden Schulden als Millionen Arbeitslose.“Das Erfolgsrezept der Zweiten Republik war aber immer auch die Kooperation der wesentlichen politischen Kräfte. Diese Zusammenarbeit ist auch jetzt, in der Phase des Wiederaufbaus, dringend erforderlich.
Ein Wiederaufbau muss aber auch von der EU ausgehen. Solidarität ist die Zauberformel! Wenn es nicht gelingt, Italien, Frankreich und Spanien zu helfen, wird Österreich die Rechnung dafür bekommen. Unsere Exporte werden einbrechen, der Euro fallen. Es ist egal, ob es über EU-Investitionen oder das EU-Budget erfolgt, solange es eben keine Darlehen sind, die diese Länder zusätzlich belasten würden. Österreich braucht wirtschaftlich stabile Nachbarn, und wir müssen gemeinsam unser Haus Europa retten! Es muss Schluss sein mit nationalen Egoismen!
Es ist höchste Zeit, den Menschen die Wahrheit zu sagen, und es ist auch viel leichter, mit der Wahrheit zu überzeugen, weiter diszipliniert zu bleiben: Es wird eine Impfung frühestens in einem Jahr, möglicherweise erst später, geben. Wir werden zumindest 18 Monate mit dem Coronavirus weiterleben müssen. Spätestens im Winter kann es zu einer neuen größeren Infektionswelle kommen. All das sollte man offen aussprechen und nach Möglichkeiten suchen, die Infektionen so gering wie möglich zu halten.
Neue Normalität keine Lösung
Wenn wir die Wirtschaft rasch wiederaufbauen wollen, müssen wir schnell zu einer echten Normalität zurückkehren. Die oft verkündete „neue Normalität“ist keine Lösung, und wir müssen den Menschen die nötigen Informationen geben, damit jeder für sich entscheidet, welches Risiko einer Infektion er (sie) eingehen will. 18 Monate ohne Kulturveranstaltungen, Sport-Events, Urlaubsreisen sind den Menschen in Österreich nicht zumutbar und führt wie bereits erwähnt langfristig zu größeren Schäden als das Virus.
Daher lautet mein Appel an die Politik: „Lasst uns gemeinsam Österreich aus der Krise führen! Zu Tode gefürchtet, wäre auch gestorben.“