Liebe Italiener, bitte rettet Euch doch selbst vor der Staatspleite!
Warum soll eigentlich eine österreichische Supermarktkassiererin dafür zahlen, dass italienische Immobilienbesitzer ungeschoren bleiben?
Von einer „großen Kraftanstrengung“sprach Angela Merkel, als sie jüngst mit Frankreichs Emmanuel Macron einen „EU-Wiederaufbaufonds“vorstellte, gespeist aus 500 Milliarden Euro neuer Schulden, die alle Staaten der Union erstmals in ihrer Geschichte gemeinsam aufnehmen sollen. Das verstößt zwar gegen den Geist der EU-Verträge, die eine gegenseitige Haftung ausschließen, hilft aber den Club-Med-Staaten, die sich aus diesem Fonds bedienen könnten, nicht in Form von Krediten, sondern von Zuwendungen.
Kommt das so, ist der jahrelange und berechtigte Widerstand von Deutschland, Holland oder Österreich gegen eine Vergemeinschaftung von Schulden überwunden. Und es wird so wohl abermals ein politisches Versprechen gebrochen werden; die „große Kraftanstrengung“freilich werden künftige Generationen von Steuerzahlern zu leisten haben. Verursacht hat diese Wende die drohende Staatspleite Italiens und die enorme Wut der Italiener auf die EU und Deutschland. Denn die Union hat sich bei der Bewältigung der gerade in Italien so dramatisch verlaufenen Corona-Epidemie nicht gerade mit Ruhm bekleckert; und auch die zwischenstaatliche Solidarität entpuppte sich ausgerechnet in jenen Tagen, da sie notwendig gewesen wäre, als hohle Phrase ohne Wert.
So weit ist der Groll der Italiener durchaus nachvollziehbar. Auch ist das Einmahnen von „Solidarität“grundsätzlich nachvollziehbar; schon jetzt fließen gewaltige Geldflüsse von den wohlhabenderen zu den ärmeren Mitgliedstaaten im Osten. Doch die Vergemeinschaftung der Schulden ist nicht so alternativlos, wie die italienischen Politiker behaupten. Denn Italien ist ein verarmter, überschuldeter Staat, der aber von einer erstaunlich vermögenden Bevölkerung bewohnt wird. Zwar ist die Datenlage, je nach angelegten Kriterien, etwas unübersichtlich, doch in fast allen Statistiken ist der private Besitz der Italiener deutlich größer als jener der Deutschen. So lag etwa das Median-Vermögen der Deutschen 2019 bei rund 35.000 Euro pro Person, jenes der Italiener bei knapp 100.000 Euro. Was hauptsächlich daran liegt, dass die Italiener zumeist Wohnungen und Häuser kaufen anstatt zu mieten. Dazu kommt, dass die Privathaushalte in Italien – anders als der Staat – einen so niedrigen Verschuldungsgrad haben wie kein anderes Land der Eurozone.
Es ist verständlich, dass Italiens Politik die zur Abwendung der Staatspleite nötigen Mittel lieber bei Deutschen, Holländern oder Österreichern holen will als bei der eigenen Bevölkerung – aber möglich wäre das, ganz ohne Hilfe von außen. Wie das geht, hat der deutsche Ökonom Daniel Stelter skizziert. Anstatt sich am privat deutlich weniger wohlhabenden deutschen Steuerzahler zu vergreifen, möge die Regierung in Rom das Vermögen ihrer eigenen Landsleute mit einer einmaligen Abgabe belegen.
„Eine Vermögensabgabe von einmalig 20 Prozent würde genügen, um die italienische Staatsverschuldung um 100 Prozent des BIPs zu senken – auf ein Niveau unterhalb der deutschen.“Italiens Privathaushalte hätten selbst nach einem solchen Schnitt noch mehr Vermögen als die deutschen, argumentiert der Ökonom: „Wollte man den Schuldenstand auf 60 Prozent des BIPs senken, genügte eine Abgabe von 14 Prozent auf das Privatvermögen, um die Staatsschulden so zu senken.“
Nun ist eine derartige Vermögensabgabe aus ordnungspolitischer, liberaler Sicht völlig abzulehnen. Wenn die Alternative ist, die Steuerzahler anderer EU-Länder zur Kasse zu bitten und damit in gewisser Weise zu enteignen, erscheint eine derartige innerstaatliche Bereinigung der Überschuldung des Staates das kleinere Übel zu sein. Der Münchner Supermarktkassiererin wird schwer zu vermitteln sein, dass sie noch höhere Abgaben schultern muss, damit italienische Immobilienbesitzer ungeschoren davonkommen.
Eine europäische „Solidarität“, die so aussieht, wird die EU nicht überleben.
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Zum Autor: Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.
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