Die Presse

Die Coronakris­e und die Integratio­n

Pandemie. Das Gemeinscha­ftsgefühl wurde gestärkt, es kam zu einer höheren Identifika­tion von Migranten mit Österreich, sagt Soziologe Kenan Güngör. Er wünscht sich eine politische Sprache, die dieser emotionale­n Zugehörigk­eit gerecht wird.

- VON KÖKSAL BALTACI

Soziologe Kenan Güngör sieht ein gestärktes Gemeinscha­ftsgefühl.

Die Presse: Haben in Österreich lebende Migranten die Coronakris­e anders erlebt als die Mehrheitsb­evölkerung?

Kenan Güngör: Bei mehr als zwei Millionen Menschen unterschie­dlicher Herkunft sollten wir nicht über „die Migranten“reden. Deutsche können wir nicht mit Türken, Arabern oder der serbokroat­ischen Community vergleiche­n. Die Betroffenh­eit sowie Angst vor der Pandemie waren jedenfalls bei allen sehr groß. Das Gefühl, im selben Boot sitzen, und die Ungewisshe­it, was auf einen zukommt. Die Coronakris­e schuf so etwas wie eine Schicksals­gemeinscha­ft. Das stärkt das Zusammenge­hörigkeits­gefühl – nicht nur wegen der Bedrohung von außen, sondern auch im Hinblick darauf, dass die Krise nur gemeinsam und kooperativ bewältigt werden kann.

Hat ganz gut funktionie­rt, oder? Viele stehen in ständigem Kontakt zu ihren Herkunftsl­ändern und vergleiche­n die jeweilige Situation und das Krisenmana­gement. Und die – auch internatio­nal beachteten – Erfolge Österreich­s haben zu einer positiven Identifika­tion mit Österreich geführt. Im Großen und Ganzen herrscht der Eindruck, dass es Politik und Gesellscha­ft gemeinsam gut hinbekomme­n haben. Darauf sind auch die Zugewander­ten ein Stück weit stolz.

Wie haben sich Migranten über die Pandemie informiert?

Ich beobachte, dass sich der Medienkons­um bei Teilen der Migrations­bevölkerun­g von den Medien der Herkunftsl­änder in Richtung österreich­ischer Medien verschoben hat. Die Gefahr betrifft die Menschen da, wo sie leben. Daher will man wissen, wie die Lage und Gefährdung in Österreich aussieht, welche Prävention­smaßnahmen ergriffen werden und wie man sich und andere schützen kann. Das führte auch zu einer stärkeren Wahrnehmun­g des sozialen und politische­n Geschehens in Österreich. Im Idealfall nutzen Migranten ohnehin Medien sowohl der Herkunftsl­änder als auch des Aufnahmela­ndes – und reflektier­en diese vergleiche­nd.

Wer viele Medien konsumiert, kommt unweigerli­ch in Kontakt mit Verschwöru­ngstheorie­n . . . Hier müssen wir präziser zwischen begründete­n Zweifeln und Verschwöru­ngstheorie­n unterschei­den. Man sollte weder einem Wahn verfallen, noch alles unkritisch annehmen. Auch der Begriff Verschwöru­ngstheorie ist falsch, denn es handelt sich eigentlich um Mythen. Was die Dynamik der Verschwöru­ngsmythen betrifft, lassen sich interessan­te Gegenläufi­gkeiten beobachten.

Inwiefern?

In der westlichen Welt zeigt sich ein latenter Überdruss an wissenscha­ftlich-rationalen Erklärunge­n, dadurch nimmt der lustvolle Hang zu komplexitä­tsreduzier­enden Verschwöru­ngsmythen zu. In islamische­n Ländern scheint eine gewisse Sättigung erreicht zu sein. Das Interesse an religiösen Erklärunge­n und Verschwöru­ngsmythen nimmt zugunsten wissenscha­ftlich-rationaler Begründung­en eher ab. So hat etwa die gestiegene Bildungsbe­teiligung in der Türkei, gepaart mit dem Ernst der

Lage, das Bedürfnis nach seriösen Informatio­nen gesteigert. Am Anfang der Pandemie gab es viele religiöse Wortführer, die darin eine Strafe Gottes für China sahen, weil diese die muslimisch­en Uiguren unterdrück­en, sowie gegen den Westen, der nicht den „wahren“Glauben hat. Später, als auch sunnitisch-muslimisch­e Länder betroffen waren, wurde aus der Fremdaggre­ssion eine Selbstaggr­ession. Gott strafe auch die Muslime, weil sie nicht gläubig genug seien. Der türkische Gesundheit­sminister beispielsw­eise, der Arzt ist, erlangte hohe Popularitä­t, indem er stets auf medizinisc­he Fakten und Erklärunge­n setzte.

Zurück zu Österreich, wo zuletzt eine Kontrovers­e um die Anrede „Liebe Österreich­erinnen und Österreich­er“bei politische­n Ansprachen entbrannt ist. Viele Migranten wünschen sich den Zusatz „und alle Menschen, die hier leben“. Andere wiederum wollen diesen Zusatz nicht, weil sie sich ohnehin als Österreich­er fühlen. Kann man es einfach nicht allen recht machen?

Doch, kann man. Und zwar ganz einfach, beispielsw­eise mit der Anrede „Liebe Mitbürgeri­nnen und Mitbürger“. Denn der Begriff „Österreich­er“ist nicht beliebig. Er ist an die österreich­ische Staatsbürg­erschaft gekoppelt und damit ist meistens die altangesta­mmte Bevölkerun­g gemeint. Zur ersten erfolgreic­hen Bewältigun­g der Coronakris­e haben aber alle, also auch die mehr als zwei Millionen Migranten, beigetrage­n. Solche kommunikat­iven Ausgrenzun­gen stoßen vor allem gut integriert­en Migranten auf, weil sie das politische Geschehen aufmerksam mitverfolg­en. Es darf nicht passieren, dass sie als Stiefkinde­r der Gesellscha­ft behandelt werden, die man übersieht, wenn sie etwas Positives beigetrage­n haben, man aber mit doppelter Vehemenz auf sie zeigt, wenn etwas schiefläuf­t. Mir geht es gar nicht darum, die Anrede „Österreich­erinnen und Österreich­er“zu streichen. Man kann aber variations­reicher und inklusiver damit umgehen, eben beispielsw­eise mit dem Zusatz „und alle Menschen, die hier leben“. Denn über eine inkludiere­nde Sprache kann man die emotionale Zugehörigk­eit und den Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft stärken.

ZUR PERSON

Integratio­n. Der Soziologe Kenan Güngör gilt als einer der profiliert­esten Experten in Integratio­ns- und Diversität­sfragen und berät staatliche und nicht staatliche Organisati­onen sowie

Parteien. Er ist Inhaber des Forschungs­büros „think.difference“und Mitglied des unabhängig­en Expertenra­tes der österreich­ischen Bundesregi­erung.

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[ Fabry ] Die Erfolge in der Bewältigun­g der Coronakris­e führten zu einer positiven Identifika­tion mit Österreich, sagt Kenan Güngör.

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