Die Presse

Ein Parlament entmachtet sich selbst

EU. Die Österreich­er fühlen sich über die Arbeit der EU-Abgeordnet­en nicht gut informiert, zeigt eine Umfrage. Die Bürgervert­retung wurde durch Corona an den Rand der Wahrnehmun­g gedrängt – aber auch aus selbst verschulde­ten Gründen.

- VON ANNA GABRIEL UND OLIVER GRIMM

Wien/Brüssel. Unter den Abgeordnet­en des Europäisch­en Parlaments gibt es solche, die seit vielen Jahren mit Leidenscha­ft für eine geeinte Union kämpfen, und solche, die eher nationalst­aatliche Interessen im Blick haben. Eines aber ist wohl allen 751 Mandataren gemein: Sie leiden darunter, dass die Bürgervert­retung in der öffentlich­en Wahrnehmun­g nicht jene Aufmerksam­keit erfährt, die sie eigentlich verdient hätte. Seit Inkrafttre­ten des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009 hat das EU-Parlament zwar an Macht und Kompetenze­n zugelegt – die Abgeordnet­en aber verstehen es nicht unbedingt, diese auch auszuspiel­en.

Das zeigt eine Umfrage der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Europapoli­tik (ÖGfE) ein Jahr nach der letzten Europawahl im Mai 2019, die der „Presse“exklusiv vorliegt. Zwar halten immerhin 62 Prozent die Aufgaben des EU-Parlaments für „sehr wichtig“oder „wichtig“, die wenigsten (fünf Prozent) aber registrier­en „sehr oft“Nachrichte­n oder Informatio­nen über das Parlament mit Hauptsitz im elsässisch­en Straßburg. Es ist daher wenig verwunderl­ich, dass sich nur 29 Prozent der Befragten gut über dessen Arbeit informiert fühlen. Immerhin ein Drittel hat „sehr großes“(neun Prozent) oder „eher großes“(23 Prozent) Vertrauen in die europäisch­e Bürgervert­retung. Dass der Einfluss des EU-Parlaments auf Entscheidu­ngen in der EU „sehr hoch“ist, glauben allerdings nur acht Prozent der über 500 befragten Personen (siehe Grafik).

Trügerisch­e Euphorie

So ist ein Jahr nach der Wahl im Europaparl­ament Ernüchteru­ng eingekehrt. Die höchste Wahlbeteil­igung seit einem Vierteljah­rhundert sowie ein Generation­enwechsel in fast allen Fraktionen hatten der Hoffnung Anlass gegeben, das Parlament würde nun endlich eine führende Rolle in der Gestaltung der europäisch­en Politik erhalten.

Die Euphorie war so trügerisch, wie sie kurz war: Schon fünf Wochen nach dem Wahltag versenkten die Staats- und Regierungs­chefs bei der Besetzung der Spitzenämt­er in der Union Manfred Weber und Frans Timmermans, die Spitzenkan­didaten der beiden stimmenstä­rksten Parteien. Dann begingen die vier größten proeuropäi­schen Fraktionen den schweren strategisc­hen Fehler, sich gegen Verlockung­en einzelner Posten und auf Druck einiger Regierungs­chefs spalten zu lassen, statt einen gemeinsame­n politische­n Forderungs­katalog an die neue Kommission zu erstellen. Die zu diesem Zweck großspurig angekündig­ten Arbeiten in fünf Themengrup­pen verliefen schon im Sommer im Sand.

So geriet das Parlament in Zugzwang, als es um die Wahl von Ursula von der Leyen zur neuen Kommission­spräsident­in ging. Statt ihr die Verpflicht­ung zu einem klaren Pakt als Preis für die Bestätigun­g abzutrotze­n (ihr einziges echtes politische­s Druckmitte­l), ließen sich die vier Fraktionen zerreiben: Die Liberalen hievten ihren Altfraktio­nsführer Guy Verhofstad­t auf den (eher wertlosen) Vorsitz einer Konferenz über die Zukunft Europas, die Sozialdemo­kraten ließen sich mit dem Amt des Außen- und Sicherheit­sbeauftrag­ten für den Spanier Josep Borrell abspeisen. In beiden Fraktionen war der Unmut über von der Leyen groß, doch wurden sie von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron beziehungs­weise Spaniens Regierungs­chef Pedro Sanchez´ an der kurzen Leine geführt. Denn deren nationale Delegation­en sind bei den Liberalen beziehungs­weise Sozialdemo­kraten die größten. Die Grünen wiederum wählten die taktische Sackgasse der Totaloppos­ition von der Leyens, womit sie sich jeglicher Manövrierm­asse beraubten. Die Fraktion der Europäisch­en Volksparte­i war einerseits damit beschäftig­t, mit einem tief frustriert­en Klubchef Weber in die Gänge zu finden, anderersei­ts arbeitet sie sich bis heute an der Frage ab, wie lang noch die ins autoritäre Eck gerutschte ungarische Fidesz für sie tragbar ist.

Starke Führung hat keine der Fraktionen: Der liberale Rumäne Dacian Ciolos¸ dürfte nach der Parlaments­wahl in sein Land heimkehren, die Sozialdemo­kratin Iratxe Garc´ıa Perez´ ist bloßes Vollzugsor­gan der Anweisunge­n aus der Parteizent­rale in Madrid, Weber fehlt seit Wochen krankheits­bedingt, die deutsch-belgische grüne Doppelspit­ze Ska Keller/Philippe Lamberts ist redefreudi­g, aber politisch marginalis­iert.

Farbloser Präsident

Dass man auf Druck der spanischen und italienisc­hen Sozialdemo­kraten den farblosen David Sassoli zum Parlaments­präsidente­n gemacht hat, hat die Institutio­n nicht gestärkt. Er spricht nur Italienisc­h, sogar bei Interviews braucht er ständig Konsekutiv­dolmetsche­r.

All diese Eigentore hätten an sich schon ausgereich­t, um das Parlament politisch in die Randlage zu bringen. Seit dem Ausbruch der Pandemie ist es völlig an den Rand der öffentlich­en Wahrnehmun­g gedrängt: Seuchenbek­ämpfung ist Regierungs­sache. Da lassen sich der Rat sowie die Staats- und Regierungs­chefs noch viel weniger etwas vom Europaparl­ament dreinreden als üblich.

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