Ein Parlament entmachtet sich selbst
EU. Die Österreicher fühlen sich über die Arbeit der EU-Abgeordneten nicht gut informiert, zeigt eine Umfrage. Die Bürgervertretung wurde durch Corona an den Rand der Wahrnehmung gedrängt – aber auch aus selbst verschuldeten Gründen.
Wien/Brüssel. Unter den Abgeordneten des Europäischen Parlaments gibt es solche, die seit vielen Jahren mit Leidenschaft für eine geeinte Union kämpfen, und solche, die eher nationalstaatliche Interessen im Blick haben. Eines aber ist wohl allen 751 Mandataren gemein: Sie leiden darunter, dass die Bürgervertretung in der öffentlichen Wahrnehmung nicht jene Aufmerksamkeit erfährt, die sie eigentlich verdient hätte. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009 hat das EU-Parlament zwar an Macht und Kompetenzen zugelegt – die Abgeordneten aber verstehen es nicht unbedingt, diese auch auszuspielen.
Das zeigt eine Umfrage der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) ein Jahr nach der letzten Europawahl im Mai 2019, die der „Presse“exklusiv vorliegt. Zwar halten immerhin 62 Prozent die Aufgaben des EU-Parlaments für „sehr wichtig“oder „wichtig“, die wenigsten (fünf Prozent) aber registrieren „sehr oft“Nachrichten oder Informationen über das Parlament mit Hauptsitz im elsässischen Straßburg. Es ist daher wenig verwunderlich, dass sich nur 29 Prozent der Befragten gut über dessen Arbeit informiert fühlen. Immerhin ein Drittel hat „sehr großes“(neun Prozent) oder „eher großes“(23 Prozent) Vertrauen in die europäische Bürgervertretung. Dass der Einfluss des EU-Parlaments auf Entscheidungen in der EU „sehr hoch“ist, glauben allerdings nur acht Prozent der über 500 befragten Personen (siehe Grafik).
Trügerische Euphorie
So ist ein Jahr nach der Wahl im Europaparlament Ernüchterung eingekehrt. Die höchste Wahlbeteiligung seit einem Vierteljahrhundert sowie ein Generationenwechsel in fast allen Fraktionen hatten der Hoffnung Anlass gegeben, das Parlament würde nun endlich eine führende Rolle in der Gestaltung der europäischen Politik erhalten.
Die Euphorie war so trügerisch, wie sie kurz war: Schon fünf Wochen nach dem Wahltag versenkten die Staats- und Regierungschefs bei der Besetzung der Spitzenämter in der Union Manfred Weber und Frans Timmermans, die Spitzenkandidaten der beiden stimmenstärksten Parteien. Dann begingen die vier größten proeuropäischen Fraktionen den schweren strategischen Fehler, sich gegen Verlockungen einzelner Posten und auf Druck einiger Regierungschefs spalten zu lassen, statt einen gemeinsamen politischen Forderungskatalog an die neue Kommission zu erstellen. Die zu diesem Zweck großspurig angekündigten Arbeiten in fünf Themengruppen verliefen schon im Sommer im Sand.
So geriet das Parlament in Zugzwang, als es um die Wahl von Ursula von der Leyen zur neuen Kommissionspräsidentin ging. Statt ihr die Verpflichtung zu einem klaren Pakt als Preis für die Bestätigung abzutrotzen (ihr einziges echtes politisches Druckmittel), ließen sich die vier Fraktionen zerreiben: Die Liberalen hievten ihren Altfraktionsführer Guy Verhofstadt auf den (eher wertlosen) Vorsitz einer Konferenz über die Zukunft Europas, die Sozialdemokraten ließen sich mit dem Amt des Außen- und Sicherheitsbeauftragten für den Spanier Josep Borrell abspeisen. In beiden Fraktionen war der Unmut über von der Leyen groß, doch wurden sie von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beziehungsweise Spaniens Regierungschef Pedro Sanchez´ an der kurzen Leine geführt. Denn deren nationale Delegationen sind bei den Liberalen beziehungsweise Sozialdemokraten die größten. Die Grünen wiederum wählten die taktische Sackgasse der Totalopposition von der Leyens, womit sie sich jeglicher Manövriermasse beraubten. Die Fraktion der Europäischen Volkspartei war einerseits damit beschäftigt, mit einem tief frustrierten Klubchef Weber in die Gänge zu finden, andererseits arbeitet sie sich bis heute an der Frage ab, wie lang noch die ins autoritäre Eck gerutschte ungarische Fidesz für sie tragbar ist.
Starke Führung hat keine der Fraktionen: Der liberale Rumäne Dacian Ciolos¸ dürfte nach der Parlamentswahl in sein Land heimkehren, die Sozialdemokratin Iratxe Garc´ıa Perez´ ist bloßes Vollzugsorgan der Anweisungen aus der Parteizentrale in Madrid, Weber fehlt seit Wochen krankheitsbedingt, die deutsch-belgische grüne Doppelspitze Ska Keller/Philippe Lamberts ist redefreudig, aber politisch marginalisiert.
Farbloser Präsident
Dass man auf Druck der spanischen und italienischen Sozialdemokraten den farblosen David Sassoli zum Parlamentspräsidenten gemacht hat, hat die Institution nicht gestärkt. Er spricht nur Italienisch, sogar bei Interviews braucht er ständig Konsekutivdolmetscher.
All diese Eigentore hätten an sich schon ausgereicht, um das Parlament politisch in die Randlage zu bringen. Seit dem Ausbruch der Pandemie ist es völlig an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt: Seuchenbekämpfung ist Regierungssache. Da lassen sich der Rat sowie die Staats- und Regierungschefs noch viel weniger etwas vom Europaparlament dreinreden als üblich.