Die Dekolonialisierung der Sozialarbeit in Ostafrika
Institutionalisierte Sozialarbeit steckt in Afrika in den Kinderschuhen. Die universitäre Lehre braucht Inhalte, die die afrikanische Kultur reflektieren und politisches Engagement fördern. Der Export europäischer Konzepte könne die Communitys gefährden.
Eine Gruppe von Sozialarbeitern versucht derzeit, in der Provinz Südkivu im Osten der Demokratischen Republik Kongo die schlimmsten Folgen der Ausbreitung des Coronavirus zu lindern. In der Region sind durch schwere Regenfälle Tausende Häuser zerstört worden, mehrere Hundert Menschen starben. Unterstützung erfahren die Menschen aus Kärnten, wo der Verein AfriCarinthia basierend auf langjähriger Forschungskooperation Spenden sammelt.
Initiator ist Helmut Spitzer, Professor für Sozialarbeit an der Fachhochschule Kärnten. Er hat zwischen 2010 und 2019 gemeinsame Projekte der FH Kärnten mit verschiedenen afrikanischen Hochschulen geleitet, um einen Beitrag zur Professionalisierung der Sozialarbeit in mehreren Ländern Afrikas zu leisten. Beteiligt waren die University of Nairobi in Kenia, die University of Rwanda (Ruanda), das Institute of Social
Work in Tansania, die Makerere University in Uganda, die Hope Africa University in Burundi sowie der kürzlich gegründete Verband für Sozialarbeit in der Demokratischen Republik Kongo.
Mitunter zermürbender Dialog
Da bis heute etwa 70 Prozent der Universitätslehrgänge zur Sozialen Arbeit sehr stark an westliche Curricula angelehnt sind, lag ein Hauptziel in der Dekolonialisierung (siehe Lexikon) der Lehre. Das heißt, in der Entwicklung von Lehrinhalten für indigene und innovative Praxisansätze.
2010 wurde in einer ersten Phase in einer einwöchigen Klausur in Nairobi die Bedürfnislage formuliert und daraufhin zwischen 2011 und 2014 der Status quo analysiert. Es stellte sich heraus, dass es in den beteiligten Ländern – mit Ausnahme von Tansania – kaum staatlich institutionalisierte Sozialarbeit durch ausgebildete Kräfte gibt. In der Mehrzahl der Länder wird Engagement im Bereich der Sozialarbeit von NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen) getragen und durch ausländische Entwicklungshilfe finanziert.
Deshalb setzten sich die Forscher das Ziel, kulturspezifisch relevante und innovative Ansätze zu entwickeln, die zum einen der Lebensbewältigung in den spezifischen Verhältnissen dient. „Die indigene Praxis der Sozialen Arbeit ist sehr stark Community-bezogen und weniger an Einzelpersonen orientiert“, erklärt Spitzer. „Im Vordergrund steht das Kollektiv.“Dass damit auch Konflikte verbunden sind, ignorieren die Forscher nicht. „Die Aufrechterhaltung patriarchaler Familienstrukturen und damit verbundene Traditionen, wie die Genitalverstümmelung, müssen kritisch reflektiert und Teil eines manchmal zermürbenden Dialogs werden.“
Beitrag zur Demokratisierung
Auf Neuorientierung und Transformation zielt zum anderen der Schwerpunkt der Ausbildung ab, der auf politischem Engagement gegen Armut und soziale Benachteiligung liegt. In diesem Kontext werden Strategien und Handlungsmodelle entwickelt, um Einfluss auf politische Entscheidungsinstanzen, vor allem Ministerien, zu nehmen. Um dies zu koordinieren, trafen sich Vertreter aller Länder zu Workshops, um sich zu vernetzen und gemeinsame Aktionen zu planen. Im Ostkongo wurde 2018 ein Berufsverband für Soziale Arbeit gegründet, der eine Plattform für politische Aktivitäten bieten könnte.
bzw. Dekolonisation meint die verschiedenen Prozesse der Ablösung der Kolonien von ihren Kolonialmächten. Der Begriff umfasst dabei nicht nur politische und wirtschaftliche Aspekte, sondern hat auch eine gesellschaftliche und kulturelle Dimension. Ein Beispiel dafür ist das Projekt Prosowo. Es hat das Ziel, die Dekolonialisierung der ostafrikanischen Sozialarbeit durch Lehrplanentwicklung und politische Lobbyarbeit voranzutreiben.
Spitzer unterzieht in einer demnächst erscheinenden Monografie die Rolle europäischer Aktivisten und Forscher einer kritischen Reflexion. „Sozialarbeit in Ostafrika ist geprägt von der ,Mzumgu‘-Perspektive, das heißt dem Blick des außenstehenden Europäers auf die Situation. Forscher aus Europa müssen ethnologisch selbstreflexiv die eigene Rolle infrage stellen, und verstehen, dass der Export europäischer Konzepte auch eine Gefahr für afrikanische Communitys sein kann“, so Spitzer.
Obwohl das Appear-Programm des österreichischen Entwicklungsministeriums das Projekt über knapp zehn Jahre finanziert hat und die FH-Kärnten etwa 70 Studierende ins Auslandssemester nach Afrika schicken konnte, sei es jetzt auch an der Zeit für die Dekolonialisierung der Partnerhochschulen. „Die Sozialarbeit kann dadurch einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung der afrikanischen Staaten leisten“, ist Spitzer überzeugt.