Wenn ein Staat verdunstet
In den engen Gassen der Brüsseler Innenstadt ist der vorgeschriebene Abstand in Zeiten des Coronavirus nur schwer einzuhalten. Dass Brüssel daher das Stadtzentrum zu einer Begegnungszone umgestaltet hat, um mehr Platz für Fußgänger zu schaffen, hat international einige Aufmerksamkeit hervorgerufen. Für den flämischen Exstaatssekretär Theo Francken aber war das keine verkehrspolitische, sondern eine klar gegen die Flamen gerichtete Maßnahme – weil die mit ihren Autos ins Brüsseler Stadtzentrum einpendelten und jetzt daran gehindert würden. Schon zuvor waren sich die Politiker der beiden Landesteile Belgiens über die angemessene Reaktion auf Covid-19 in die Haare geraten: Die wallonische Seite forcierte strenge Beschränkungen nach französischem Vorbild, während flämische Politiker eher der weichen holländischen Linie folgen wollten.
Auch die Gesundheitskrise trägt also nicht dazu bei, das Verhältnis zwischen Flamen und Wallonen zu entspannen. Vor allem die flämischen Nationalisten, die die politische Szenerie des Teilstaates seit Jahren dominieren und bei der jüngsten Wahl, im Mai 2019, knapp an der absoluten Mehrheit im Regionalparlament vorbeigeschrammt sind, wollen das gemeinsame Unternehmen eher früher als später beenden. Der belgische Staat, so ihre Wunschvorstellung, solle überflüssig werden, nachdem er zuvor Kompetenz für Kompetenz an Flandern und an die Wallonie abgegeben hat. Belgien solle, so sagen sie, „verdunsten“. An seinen Grenzen ist das schon geschehen: Auf der Landstraße von Calais kommend, passiert man am Straßenrand ein Schild mit der Aufschrift „Vlaanderen“. In einigem Abstand davon verweist eine blau-weiße Tafel auf die erlaubten Höchstgeschwindigkeiten in diesem „Vlaanderen“. Dass man hier einen Staat namens „Belgien“betritt, davon kündet nichts mehr.
Flandern ist nicht viel größer als Tirol, hat aber 6,5 Millionen Einwohner. Das Gebiet rund um die Städte Antwerpen, Brügge und Gent ist also ziemlich dicht besiedelt, und das merkt man, wenn man auf Nebenstraßen fährt. Man muss sich erst daran gewöhnen, nicht in grünen Landschaften unterwegs zu sein, sondern durch endlose Kleinstädte und ineinander übergehende Straßendörfer zu fahren. Nein, besonders schön ist die flache Gegend nicht – was möglich wäre, kann man jenseits der Grenze in den Niederlanden erahnen, wo eine strenge Raumordnung das Ausufern der Orte verhindert und den Erhalt der Naturräume zu sichern imstande ist.
Eine herbe Enttäuschung ist die belgische Nordseeküste. Auf einer Länge von 72 Kilometern besteht sie großteils aus gesichtslosen Appartementblöcken, vor denen breite Sandstrände liegen. Die längste Straßenbahnlinie der Welt durchfährt die Küstenorte vom reichen Knokke bis nach De Panne an der französischen Grenze und braucht dafür insgesamt zweieinhalb Stunden. Wenn man diese kusttram außerhalb der Saison benützt, passiert man auf langen Abschnitten Neubauviertel, geprägt von heruntergelassenen Jalousien, verlassenen Geschäften und geschlossenen Restaurants. Der Zahl der Appartements nach zu schließen, hat nahezu jede flämische Familie hier eine Sommerwohnung. Eine Freundin, die in Brüssel arbeitet, erzählte mir von einem Gespräch zwischen einem spanischen und einem griechischen EU-Beamten, das sie mitgehört hatte. Die beiden unterhielten sich über Möglichkeiten der Freizeitgestaltung rund um die EU-Hauptstadt, und als sich der neu angekommene Spanier nach der nahen Küste erkundigte, da schlug der Grieche verzweifelt die Hände vor dem Gesicht zusammen.
Besucht man Ostende, kann man den Mann verstehen. Der Ort galt mit seinem Kursaal und seiner Promenade einst als die „Königin der Seebäder“, hier verbrachten die gekrönten Häupter Europas ihre Sommer. Einige Jugendstilgebäude aus der Zeit von 1870 bis 1914 sind in beiden Weltkriegen zerstört, viele aber erst danach abgerissen worden. Auch im 20 Kilometer entfernten Blankenberge erheben sich in der vordersten Linie
PETER
LACHNIT
Geboren 1952 in Wien. Studium der Geschichte und Politikwissenschaften. Lebt in Wien und Graz. Autor und Publizist. Leitete bis 2017 die Redaktion der Ö1 Sendung Dia vielstöckige Betonklötze aus den 1960ern und 1970ern.
Mit Ausnahme von Galizien haben wohl in keiner andere Gegend Europas gleich beide Weltkriege ihre zerstörerischen Spuren auf so engem Raum hinterlassen wie im belgisch-französischen Grenzgebiet rund um Ypern und Dünkirchen. An der Küste stößt man in regelmäßigen Abständen auf die Befestigungsanlagen des „Atlantikwalls“des Zweiten Weltkriegs, errichtet von der deutschen Wehrmacht. Die Stadt Ypern, etwa 35 Kilometer von der Atlantikküste entfernt, vermittelt auf den ersten Blick den Eindruck einer frühneuzeitlichen flämischen Stadt – doch schaut man genauer auf die Hauszeichen, so erkennt man als Errichtungszeit die 1920er-Jahre. Rund um Ypern fanden im Ersten Weltkrieg die mörderischen Flandernschlachten statt, bei denen der deutsche Generalstab erstmals Giftgas einsetzte und sich die Front dennoch über Jahre hinweg kaum veränderte. Der Grabenkampf hinterließ eine völlig zerstörte Stadt, umgeben von einer Mondlandschaft mit Baumstümpfen. Die Einwohner entschieden sich danach, die Stadt als historische Kopie wiederaufzubauen, inklusive der historischen Tuchhallen, in denen sich heute das In Flanders Fields Museum befindet – benannt nach dem Gedicht eines kanadischen Soldaten, in dem dieser die poppies, die roten Mohnblumen, besingt, die als Einzige in den aufgewühlten Schlachtfeldern blühten.
Die Schlachten des Ersten Weltkriegs stellten eine Zäsur im Verhältnis der beiden belgischen Sprachnationen dar: Bei diesen Kämpfen kamen, so geht jedenfalls die flämische Version der Geschichte, überproportional viele Flamen um, weil sie manche Befehle ihrer französischsprachigen Kommandanten nicht verstanden. Denn die Oberschicht des Landes war französisch, auch das Offizierskorps, sogar die flämische Bourgeoisie sprach Französisch – das belgische Niederländisch galt als Sprache der Bauern und Dienstboten, das Wort flamand war ein abwertender Begriff. Der Sprachenkonflikt war also (auch) ein sozialer Konflikt.
Die Auseinandersetzung um die Benachteiligung der einfachen, Niederländisch sprechenden Soldaten befeuerte die flämische Emanzipationsbewegung. Dazu kamen die großen Veränderungen der Wirtschaftsstruktur im Zuge des 20. Jahrhunderts: Um 1900 war Belgien hinter England das am stärksten industrialisierte Land Europas mit den Zentren in der Wallonie: in Mons, Charleroi und Lüttich. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der Niedergang des Kohlenbergbaus und der Stahlindustrie das Verhältnis zwischen Flamen und Wallonen auf den Kopf gestellt: Jetzt ist Flandern die wirtschaftlich erfolgreichere Region, während die Wallonie von Industriefriedhöfen mit hoher Arbeitslosigkeit geprägt ist.
Das Niederländische ist dem Französischen seit Langem gleichgestellt, aber die Angst vor der Übermacht des Französischen 19. Jahrhundert eine mehrheitlich flämische Stadt war. Heute ist sie, obwohl formell und bei allen Aufschriften zweisprachig, de facto zu 80 Prozent französischsprachig – und der Anteil der Frankophonen steigt durch die Zuwanderung aus Marokko, Algerien und Tunesien ständig weiter. Auch die Beschäftigten der EU-Institutionen sprechen eher Französisch als Niederländisch.
Aus der Angst, dass sich bei einer Gleichberechtigung der beiden Sprachen das Französische durchsetzt, hat die flämische Region die Konsequenz der strikten Einsprachigkeit gezogen. Steigt man in Brüssel in den Vorortezug, dann hört man die Stationsdurchsagen noch auf Französisch und Niederländisch. Passiert man aber einige Stationen später die Stadtgrenze und kommt nach Flandern, so erscheinen die elektronischen Aufschriften, wie von Zauberhand gesteuert, plötzlich nur mehr auf Niederländisch.
Auch auf den Autobahnen werden die Orte nur in ihrer flämischen Version angeschrieben, und es ist für Ausländer oft nicht ganz einfach zu erkennen, dass sich hinter Luik“die Stadt Lüttich verbirgt und man die will. Richtig problematisch wird es für die Bewohner des Brüsseler Speckgürtels. Durch den Zuzug aus der Hauptstadt sind einige dieser Gemeinden mittlerweile mehrheitlich französischsprachig, liegen aber in Flandern. In Rhode-Saint-Gen`ese sind alle fünf Mitglieder des Gemeindepräsidiums französischsprachig – doch ihre Sitzungen müssen sie auf Niederländisch abhalten. Und als in Wezembeek-Oppem eine zweisprachige Kampagne zur Krebsverhütung durchgeführt werden sollte, kündigte die übergeordnete Gesundheitsbehörde an, nur die flämische Hälfte der Broschüren bezahlen zu wollen.
Der Sprachenkonflikt trifft im Alltag auch Nichtbelgier: Als ein EU-Beamter in sein Heimatland zurückkehren wollte und vor seinem Haus in der Gemeinde Overijse südlich von Brüssel ein Schild mit der Aufschrift „Home for sale“anbrachte, wurde er von der Behörde verwarnt: In Flandern müssten alle Aufschriften in niederländischer Sprache erfolgen. Wenn man als Ausländer in einer mehrheitlich französischsprachigen Gemeinde ein Amt aufsucht und dabei Französisch spricht, dann muss einem die französischsprechende Beamtin dennoch ihre niederländisch-sprachige Visitenkarte in die Hand drücken. Die französische Version bekommt der Besucher nur, wenn er ausdrücklich darum bittet. Denn in Flandern dürfen Dokumente offizieller Stellen, und dazu zählen auch Visitenkarten von Amtsträgern, nur auf Niederländisch ausgestellt werden.
Folgenreicher als solche Ärgernisse ist aber, dass in den vergangenen Jahrzehnten die gemeinsamen Institutionen Belgiens nach und nach abgebaut wurden. Flandern und die Wallonie entscheiden nun getrennt über Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, Verkehr und Raumordnung. Die Bildungssysteme sind genauso separiert wie die Justiz, im Ausland wird das Land von zwei Tourismusbüros vertreten. Auch die gegenseitige Wahrnehmung beider Regionen nimmt ab: Die Wallonen kennen kaum flämische Schriftsteller und umgekehrt; die Welt der Zeitungsleser und TV-Konsumenten ist in Flandern eine völlig andere als die der französischsprachigen Belgier.
Auch gewählt wird getrennt, es gibt keine gesamtbelgischen Parteien mehr, wählen kann man nur Politiker der eigenen Region. Dazu kommt der Rechts-links-Gegensatz: Wallonien war lange Zeit Hochburg einer ziemlich linken Sozialdemokratie, in Flandern dominieren rechte Parteien, der rechtsextreme Vlaams Belang wurde dort 2019 zur zweitstärksten Partei. Diese zersplitterte politische Situation führt immer wieder zu endlos langen Regierungsbildungen. Erst unter dem Eindruck der Corona-Pandemie wurden vergangenen März die 15 Monate dauernden Verhandlungen beendet, und eine Regierung wurde gebildet. Dass die als Notfallsregierung nur sechs Monate lang amtieren darf, ist symptomatisch für das gegenwärtige Belgien