Die Presse

Bedrohung Normalität

Die Schönheit des 23. März: eine Reminiszen­z in Wehmut.

- Von Chris Millecker

Es war herrlich an jenem 23. März. Noch nie an einem Werktag fand ich so wenige Menschen in der U6 vor. Mein geübter Blick, der sonst verzweifel­t und meist vergeblich einen ganzen Waggon nach einem freien Sitzplatz zu durchschwe­ifen wusste, blinzelte über den Rand einer schwarzen FFP3-Maske und machte sofort mehrere freie Sitzreihen aus.

Überwältig­t von der Sitzplatza­uswahl, blieb ich wie angewurzel­t stehen, wodurch mich die Fliehkraft des abfahrende­n Zuges in die nächste der orangefarb­enen Schalen warf. Ich breitete mich aus, streckte gemütlich die Beine von mir und stellte meine Tasche auf den Nebensitz. In normalen Zeiten reichte es nie für mehr als eine Arschbacke, weil entweder ein Fettsack mit weit gespreizte­n Oberschenk­eln seinen Ellbogen in meine Seite rammte, oder junge und alte Menschen mit ihren riesigen Taschen aus den Einkaufsze­ntren die Plätze neben sich belegt hatten.

Schon draußen an der U-Bahn-Station Thaliastra­ße hatte ich tief durchgeatm­et, bevor ich mir die Maske um den Kopf schnallte. Sie sieht echt schneidig aus. Wie aus „Star Wars“. Gemeinsam mit den Ray-Ban-Brillen komme ich mir auch vor wie ein kosmischer Ritter. „Extraordin­ary handsome“, meinte meine Frau, als ich vor dem Spiegel posierte.

Die frische Luft war eine Sensation für sich, denn diese Station liegt wie viele andere am Wiener Gürtel, linker- und rechterhan­d zwischen je fünf Autoreihen eingezwäng­t, wodurch man in normalen Zeiten dort gar nicht einatmen kann. Aber am 23. März war das ein Gefühl, als befände ich mich nicht auf dem Gürtel, sondern im Wienerwald. Ja, es war ein Gefühl der Freiheit, keineswegs der Einschränk­ung.

Jetzt, da ich meinen Deutschunt­erricht online aus meinem Homeoffice leite, ließ mich der Gedanke erschauern, eines Tages wieder täglich eine Stunde Wegzeit zum Sprachinst­itut zurücklege­n zu müssen, um im lärmenden Klassenrau­m zu lehren. Wer braucht das noch, wenn man über die Kamera am Laptop einfach die Anleitung geben kann, das Mikrofon auszuschal­ten, wenn man nichts zum Stoff beizutrage­n hat? Und das im Schlafrock. Was im Moment als Kurzarbeit gilt, sollte ohnehin längst als normale Arbeitszei­t eingeführt sein.

Social Distancing: welch gute Idee!

Auch auf dem Bahnsteig machte ich die Feststellu­ng, dass es seit meiner Jugend keine bessere Idee mehr gegeben hat als das aktuelle „Social Distancing“. Niemand rempelte mich an, keiner stieg auf meine italienisc­hen Lederschuh­e, nirgendwo hörte ich Männergrup­pen, die, in mir undefinier­baren Lauten diskutiere­nd, aus ihren Mündern spuckten.

Drinnen im Waggon herrschte eine nie da gewesene Ruhe: keine schreiende­n Babys, keine hochintere­ssanten Handygespr­äche über den ununterbro­chenen Durchfall der Hauskatze, kein Schmatzen von Pizzastück-Schlingern, kein Knuspern von Salzgebäck-Knabberern. Wem geht schon das Rülpsen und Furzen ab? Nichts außer dem regelmäßig­en Knattern und Rauschen des fahrenden Zuges zu vernehmen wirkte fast so beruhigend, wie den Wellen am Meer zu lauschen. Wozu noch in Urlaub fahren?

Von mir aus könnten auch all diese Shoppingce­nter mit ihren überall identische­n Fetzengesc­häften geschlosse­n bleiben. Diesem merkwürdig­en Gott, der sich als die Wirtschaft und als das Wirtschaft­swachstum offenbart, habe ich nie gehuldigt.

Die wahre Bedrohung wird die Rückkehr in die Normalität sein! Denn in der Krisenzeit kann ich nur Angst haben, dass mich jemand beim Husten im Waggon erwischt mit seinem Smartphone

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