Bedrohung Normalität
Die Schönheit des 23. März: eine Reminiszenz in Wehmut.
Es war herrlich an jenem 23. März. Noch nie an einem Werktag fand ich so wenige Menschen in der U6 vor. Mein geübter Blick, der sonst verzweifelt und meist vergeblich einen ganzen Waggon nach einem freien Sitzplatz zu durchschweifen wusste, blinzelte über den Rand einer schwarzen FFP3-Maske und machte sofort mehrere freie Sitzreihen aus.
Überwältigt von der Sitzplatzauswahl, blieb ich wie angewurzelt stehen, wodurch mich die Fliehkraft des abfahrenden Zuges in die nächste der orangefarbenen Schalen warf. Ich breitete mich aus, streckte gemütlich die Beine von mir und stellte meine Tasche auf den Nebensitz. In normalen Zeiten reichte es nie für mehr als eine Arschbacke, weil entweder ein Fettsack mit weit gespreizten Oberschenkeln seinen Ellbogen in meine Seite rammte, oder junge und alte Menschen mit ihren riesigen Taschen aus den Einkaufszentren die Plätze neben sich belegt hatten.
Schon draußen an der U-Bahn-Station Thaliastraße hatte ich tief durchgeatmet, bevor ich mir die Maske um den Kopf schnallte. Sie sieht echt schneidig aus. Wie aus „Star Wars“. Gemeinsam mit den Ray-Ban-Brillen komme ich mir auch vor wie ein kosmischer Ritter. „Extraordinary handsome“, meinte meine Frau, als ich vor dem Spiegel posierte.
Die frische Luft war eine Sensation für sich, denn diese Station liegt wie viele andere am Wiener Gürtel, linker- und rechterhand zwischen je fünf Autoreihen eingezwängt, wodurch man in normalen Zeiten dort gar nicht einatmen kann. Aber am 23. März war das ein Gefühl, als befände ich mich nicht auf dem Gürtel, sondern im Wienerwald. Ja, es war ein Gefühl der Freiheit, keineswegs der Einschränkung.
Jetzt, da ich meinen Deutschunterricht online aus meinem Homeoffice leite, ließ mich der Gedanke erschauern, eines Tages wieder täglich eine Stunde Wegzeit zum Sprachinstitut zurücklegen zu müssen, um im lärmenden Klassenraum zu lehren. Wer braucht das noch, wenn man über die Kamera am Laptop einfach die Anleitung geben kann, das Mikrofon auszuschalten, wenn man nichts zum Stoff beizutragen hat? Und das im Schlafrock. Was im Moment als Kurzarbeit gilt, sollte ohnehin längst als normale Arbeitszeit eingeführt sein.
Social Distancing: welch gute Idee!
Auch auf dem Bahnsteig machte ich die Feststellung, dass es seit meiner Jugend keine bessere Idee mehr gegeben hat als das aktuelle „Social Distancing“. Niemand rempelte mich an, keiner stieg auf meine italienischen Lederschuhe, nirgendwo hörte ich Männergruppen, die, in mir undefinierbaren Lauten diskutierend, aus ihren Mündern spuckten.
Drinnen im Waggon herrschte eine nie da gewesene Ruhe: keine schreienden Babys, keine hochinteressanten Handygespräche über den ununterbrochenen Durchfall der Hauskatze, kein Schmatzen von Pizzastück-Schlingern, kein Knuspern von Salzgebäck-Knabberern. Wem geht schon das Rülpsen und Furzen ab? Nichts außer dem regelmäßigen Knattern und Rauschen des fahrenden Zuges zu vernehmen wirkte fast so beruhigend, wie den Wellen am Meer zu lauschen. Wozu noch in Urlaub fahren?
Von mir aus könnten auch all diese Shoppingcenter mit ihren überall identischen Fetzengeschäften geschlossen bleiben. Diesem merkwürdigen Gott, der sich als die Wirtschaft und als das Wirtschaftswachstum offenbart, habe ich nie gehuldigt.
Die wahre Bedrohung wird die Rückkehr in die Normalität sein! Denn in der Krisenzeit kann ich nur Angst haben, dass mich jemand beim Husten im Waggon erwischt mit seinem Smartphone