Koordinaten ohne Hoffnung
Fritz Rosenfelds Debütroman „Johanna“wiederentdeckt – ein Sittenbild der Zwanzigerjahre.
Der Klagenfurter GermanistikOrdinarius Primus-Heinz Kucher hat im Rahmen seiner Forschungen über die österreichische Literatur der Zwischenkriegszeit den Debütroman eines bedeutsamen Schriftstellers wiederentdeckt: Fritz Rosenfelds „Johanna“, die im Jahr 1924 als Fortsetzungsroman in der sozialdemokratischen Zeitung „Salzburger Wacht“, einem regionalen Ableger der „ArbeiterZeitung“, erschienen ist. Die gegenständliche ist – nach 96 Jahren – die erste Ausgabe in Buchform.
Eindrucksvoll ist, mit welchen gesellschaftskritischen Gedanken und welcher schriftstellerischen Reife der 22-jährige Fritz Rosenfeld ein Gesellschafts- und Sittenbild gezeichnet hat, das den heutigen Leser ob der Brutalität und Unmenschlichkeit, die geschildert werden, erschaudern lässt. Derselbe Schauder erfasst einen wegen des Autorenschicksals, da Rosenfeld als Jude vor den Nazis fliehen musste, seine neue Heimat in England fand und Österreich bis zu seinem Tod im Jahr 1987 nie wiedersah.
Fritz Rosenfeld war im Wien der Zwischenkriegszeit eine Galionsfigur sozialdemokratischer Kultur, was auch im Roman zum Ausdruck kommt, wenn er Klage gegen die Ungerechtigkeit führt. Johannas Eintritt in diese Welt wird sprachmächtig mit Bildern nächtlicher und regengepeitschter Natur dargestellt. In postexpressionistischer Manier werden die hoffnungsarmen Koordinaten ihrer Existenz als Vollwaise konstatiert, die in einem Dorf als Kind und gleichsam zum Nulltarif versteigert wird. Es zeichnet sich nichts Gutes ab. Eine schrullige Häuslerin wird zu ihrer ersten Pflegerin, die die Alimente hauptsächlich in Branntwein umsetzt. Als Johanna kräftig genug ist, muss sie sich beim Bürgermeister als niedrigste Magd verdingen. Mit Anton, dem Sohn auf dem Hof, feiert sie „Opferfeste der Körper“, aber „kein Verschmelzen der Seelen“. Schwanger geworden, wird sie verjagt wie ein Hund und in die nächste Stadt abgeschoben, wo ihr Kind tot geboren wird. Auch die Stadt hält für die junge Frau, die nie Geborgenheit, sondern immer nur Demütigungen und Gewalt erlebt hat, keine guten Seiten parat.
Gräfin fordert erotische Nähe
Der Abstieg ist vorbestimmt. Zunächst verrichtet sie noch Hausarbeit in einer Beamtenfamilie, aber auch hier beendet das Dienstverhältnis die sexuelle Beziehung zum heranreifenden Sohn. Eine sogenannte Gräfin, bei der sie unterkommt, fordert erotische Nähe, die Johanna nicht gewähren will. Die Abstiegsspirale dreht sich weiter, es folgen Arbeitssklaverei, Gelegenheitsprostitution, Bettelei, Hunger, Verwahrlosung und eine weitere Schwangerschaft.
Völlig verarmt kehrt sie in ihr Ursprungsdorf zurück, wo sie abgewiesen und einem unwürdigen Sterben im Wald ausgeliefert wird. Nach dem Tod findet ein Bauer ihr wimmerndes Kind und bringt es zum Bürgermeister. Die Parabel endet mit einer traurigen Quintessenz: „Ein Menschenleben war an der Welt zerbrochen. Ein neues stand bereit, hilflos in der dunklen Welt, zu Anbeginn desselben Weges, derselben Leiden gewärtig.“
Den Lesern ist zu empfehlen, Primus-Heinz Kuchers Nachwort vor dem Roman zu studieren, weil es wichtige Informationen über den Autor, die Zeit und die gesellschaftlichen Umstände enthält. Kucher thematisiert, wie der Autor, nur parallelverschoben, die dunkelsten Seiten der Goldenen Zwanzigerjahre.