Mutter, Frau Breznik. Mutter!
Mit „Mutter. Chronik eines Abschieds“fügt Melitta Breznik dem Genre der sehr persönlichen Berichte über das Sterben der Eltern einen weiteren hinzu. Breznik erzählt von ihrer sterbenden Mutter – und von sich.
Es gibt ja jede Menge Leser, die zur Realität ein intimeres Verhältnis haben als zur Fiktion. Die Beschäftigung mit der eigenen Mutter, dem eigenen Vater – unter allerdings recht verschiedenen Gesichtspunkten – hat in der Literatur des vergangenen halben Jahrhunderts eine erkleckliche Zahl von aufschlussreichen und rührseligen, von allgemein interessierenden und allzu privaten Büchern hervorgebracht. Da jeder eine Mutter und einen Vater hat oder hatte, braucht man sich bei dem Genre über Identifikationsangebote keine Gedanken zu machen. Ein Subgenre stellen jene Berichte dar, in denen Autorinnen und Autoren mit mehr oder weniger literarischer Ambition das Sterben und neuerdings auch die Demenz eines Elternteils begleiten. Es bedurfte nicht erst des Coronavirus, um dafür einen Markt zu finden. Der Krebs ist seit „Mars“von Fritz Zorn von 1977 und seit Susan Sontags Essay „Krankheit als Metapher“aus demselben Jahr ein Thema der Literatur.
Jetzt hat auch Melitta Breznik solch eine „Chronik des Abschieds“vorgelegt. Es ist gewiss kein Nachteil, dass die in Zürich lebende Kapfenbergerin ausgebildete Psychotherapeutin ist. Die medizinischen Fachkenntnisse erleichtern die Objektivierung von Beobachtungen, die ihr als Tochter naturgemäß, wie man so sagt, an die Nieren gehen. Freilich: Die Mutter, Titelgeberin des Buchs, kommt zwar schon im ersten Satz vor, aber der ganze erste Absatz spricht nicht so sehr von ihr als von der Autorin. Die Befürchtung, dass es sich doch eher um eine Nabelschau handelt als um die Sterbende, erhält Nahrung.
Melitta Breznik hält es nicht lange aus, bei ihrem Thema, der Mutter, zu bleiben, sondern schweift sehr schnell zu Einzelheiten ab, die nur bedingt mit ihr zu tun haben. Würde sich das Honorar nach dem Vorkommen des Personalpronomens „ich“berechnen, käme die Autorin auf eine beachtliche Summe. Manchmal nimmt der Egozentrismus groteske Züge an. „Mich wird später einmal niemand mehr so berühren, wie Mutter jetzt berührt wird.“Prospektives Selbstmitleid anstelle von Mitleid mit der aktuellen Lage der Mutter. Anlässlich des eingeschränkten Bewegungsradius bei der morgendlichen Gymnastik der todkranken Mutter sinniert Breznik: „Inzwischen merke ich selbst, wie sich mein Körper verändert, wie gewohnte Bewegungen sich eckiger anfühlen, die Knie oder die Hüften nicht mehr auf Anhieb den geschmeidigen Ablauf garantieren.“Um Missverständnisse zu vermeiden: Den Rezensenten irritiert die Perspektive, nicht ein eventueller Mangel an triefender Rhetorik. Das Verhältnis zur Mutter ist durchaus distanziert. Das bewahrt den Bericht wohltuend vor einem Übermaß an Sentimentalität. Aber so viel Selbstbespiegelung – im eigentlichen Sinn des Wortes – wie im folgenden Satz ist schwer erträglich: „Im Fenster gegenüber der Wartekoje, in der ich Platz genommen habe, spiegeln sich die Umrisse meines Körpers, mein Gesicht kann ich nicht erkennen, es ist überlagert von den Umrissen der auf dem Parkplatz in der Morgensonne schimmernden Autos.“Mutter, Frau Breznik. Mutter!
In den nicht allzu häufigen Rückblenden kommen Mutter und Tochter – manchmal – zusammen. In einem Nebensatz kennzeichnet sich die Autorin als „Kind einer Arbeiterfamilie in einer Kleinstadt in Österreich“. Was das für ihr Verhältnis zur Mutter bedeutet, führt sie leider nicht aus.
Am überzeugendsten ist das Buch dort, wo die Autorin ohne Rücksicht auf mögliche Reaktionen der Wahrheit und damit ihrer Mutter gerecht wird: „Sie sagt, sie würde die wechselnden Gesichter, Stimmen und körperlichen Ausdünstungen der Frauen nicht ertragen, auch nicht die ruppige Art, mit der sie von manchen behandelt würde, als sei sie ein unartiges Kind.“Das klingt erfrischend in einer Umgebung, in der Hilfeleistungen und Pflege – aus Dankbarkeit, aus Berechnung, aus Konvention? – idealisiert werden. Wahrhaftig, auch sich selbst gegenüber, ist Melitta Breznik in Sätzen wie diesen: „Es kann noch Wochen so weitergehen, und ich werde diese Zeit mit Mutter durchstehen, auch wenn es mir an manchen Tagen unerträglich scheint.“Sterbehilfe, die in der Schweiz bekanntlich zugelassen ist, lehnt sie ab. En passant wird der Euthanasie-Mord an der schizophrenen Großmutter erwähnt, über die Melitta Breznik bereits 2002 eine Erzählung – „Das Umstellformat“– veröffentlicht hat.
Die dunklen Seiten der Wirklichkeit spricht Melitta Breznik eher verhüllt an. So im beiläufigen Schlusssatz eines Kapitels: „Vor zwei Tagen läutete die Tochter einer Frau aus dem oberen Stock an der Woh
Geschäfte im Angesicht des Todes. Auch dafür bedarf es keines Coronavirus.
Das Genre hat den Nachteil, dass es keine Spannung auf den Ausgang geben kann. Er ist bekannt. Dass Breznik beharrlich betont, was die Mutter „nicht mehr“kann, verstärkt dieses Bewusstsein vom unabwendbaren Ende.
Melitta Brezniks Sprache ist ungespreizt. Sie liebt einfache Sätze, bevorzugt die Parataxe gegenüber der Hypotaxe. Mit Metaphern geht sie äußerst sparsam um. Wenn sie dann doch eine wählt, ist sie ein verbrauchtes Klischee: „Sie atmet schwer und muss den Kelch des Lebens bis zum letzten Tropfen austrinken.“Ist das die Sprache einer Psychotherapeutin? Da hat sich eher der Pfarrer durchgesetzt, mit dem sich die Mutter in ihren letzten Tagen befreundet hat. Gerade dass der Mutter oder vielmehr der Tochter nicht ein Engel erscheint. Der „Lieblingsengel“aus der Weihnachtskrippe müsste reichen, aber der ist im Keller unauffindbar.
Der Tod kommt dann Hand in Hand mit dem Kitsch und – wen wundert’s noch? – mit der Selbstbetrachtung: „Ich habe ihren Lebenslauf vollendet, ungeschönt, liebevoll. Es war kein leichtes, kein fröhliches Leben, und ein Teil davon hat sich auf mich übertragen. Irgendwann im letzten Sommer, als wir abends auf der Terrasse ihrer Wohnung gesessen sind, hat Mutter gesagt: ,Es wird besser, wenn ich tot bin, dann bist du frei.‘ Es wird nicht so sein. Ich halte ihre Hände, sie sind wärmer geworden, als ob der Tod noch einmal zurückgewichen wäre, doch es ist meine eigene Wärme, die sich auf Mutter übertragen hat. Ich werde schwer und müde. Ich werde mich kurz im Nebenzimmer ausstrecken, nur einen Moment.“
Breznik erzählt im Präsens. Die Chronik hat so den Charakter eines Tagebuchs, das festhält, was sich gerade ereignet. Außen und innen, an Beobachtbarem und an Gefühlen. An einer Stelle heißt es tatsächlich: „Das Notizbuch harrt seiner Anrufung“und „Es beruhigt mich, die Worte zu Papier zu bringen“. Abschied ist eine reziproke Angelegenheit Vielleicht sollte das Buch den