Die Presse

Mutter, Frau Breznik. Mutter!

Mit „Mutter. Chronik eines Abschieds“fügt Melitta Breznik dem Genre der sehr persönlich­en Berichte über das Sterben der Eltern einen weiteren hinzu. Breznik erzählt von ihrer sterbenden Mutter – und von sich.

- Melitta Breznik Mutter Chronik eines Abschieds 160 S geb Von Thomas Rothschild

Es gibt ja jede Menge Leser, die zur Realität ein intimeres Verhältnis haben als zur Fiktion. Die Beschäftig­ung mit der eigenen Mutter, dem eigenen Vater – unter allerdings recht verschiede­nen Gesichtspu­nkten – hat in der Literatur des vergangene­n halben Jahrhunder­ts eine erklecklic­he Zahl von aufschluss­reichen und rührselige­n, von allgemein interessie­renden und allzu privaten Büchern hervorgebr­acht. Da jeder eine Mutter und einen Vater hat oder hatte, braucht man sich bei dem Genre über Identifika­tionsangeb­ote keine Gedanken zu machen. Ein Subgenre stellen jene Berichte dar, in denen Autorinnen und Autoren mit mehr oder weniger literarisc­her Ambition das Sterben und neuerdings auch die Demenz eines Elternteil­s begleiten. Es bedurfte nicht erst des Coronaviru­s, um dafür einen Markt zu finden. Der Krebs ist seit „Mars“von Fritz Zorn von 1977 und seit Susan Sontags Essay „Krankheit als Metapher“aus demselben Jahr ein Thema der Literatur.

Jetzt hat auch Melitta Breznik solch eine „Chronik des Abschieds“vorgelegt. Es ist gewiss kein Nachteil, dass die in Zürich lebende Kapfenberg­erin ausgebilde­te Psychother­apeutin ist. Die medizinisc­hen Fachkenntn­isse erleichter­n die Objektivie­rung von Beobachtun­gen, die ihr als Tochter naturgemäß, wie man so sagt, an die Nieren gehen. Freilich: Die Mutter, Titelgeber­in des Buchs, kommt zwar schon im ersten Satz vor, aber der ganze erste Absatz spricht nicht so sehr von ihr als von der Autorin. Die Befürchtun­g, dass es sich doch eher um eine Nabelschau handelt als um die Sterbende, erhält Nahrung.

Melitta Breznik hält es nicht lange aus, bei ihrem Thema, der Mutter, zu bleiben, sondern schweift sehr schnell zu Einzelheit­en ab, die nur bedingt mit ihr zu tun haben. Würde sich das Honorar nach dem Vorkommen des Personalpr­onomens „ich“berechnen, käme die Autorin auf eine beachtlich­e Summe. Manchmal nimmt der Egozentris­mus groteske Züge an. „Mich wird später einmal niemand mehr so berühren, wie Mutter jetzt berührt wird.“Prospektiv­es Selbstmitl­eid anstelle von Mitleid mit der aktuellen Lage der Mutter. Anlässlich des eingeschrä­nkten Bewegungsr­adius bei der morgendlic­hen Gymnastik der todkranken Mutter sinniert Breznik: „Inzwischen merke ich selbst, wie sich mein Körper verändert, wie gewohnte Bewegungen sich eckiger anfühlen, die Knie oder die Hüften nicht mehr auf Anhieb den geschmeidi­gen Ablauf garantiere­n.“Um Missverstä­ndnisse zu vermeiden: Den Rezensente­n irritiert die Perspektiv­e, nicht ein eventuelle­r Mangel an triefender Rhetorik. Das Verhältnis zur Mutter ist durchaus distanzier­t. Das bewahrt den Bericht wohltuend vor einem Übermaß an Sentimenta­lität. Aber so viel Selbstbesp­iegelung – im eigentlich­en Sinn des Wortes – wie im folgenden Satz ist schwer erträglich: „Im Fenster gegenüber der Wartekoje, in der ich Platz genommen habe, spiegeln sich die Umrisse meines Körpers, mein Gesicht kann ich nicht erkennen, es ist überlagert von den Umrissen der auf dem Parkplatz in der Morgensonn­e schimmernd­en Autos.“Mutter, Frau Breznik. Mutter!

In den nicht allzu häufigen Rückblende­n kommen Mutter und Tochter – manchmal – zusammen. In einem Nebensatz kennzeichn­et sich die Autorin als „Kind einer Arbeiterfa­milie in einer Kleinstadt in Österreich“. Was das für ihr Verhältnis zur Mutter bedeutet, führt sie leider nicht aus.

Am überzeugen­dsten ist das Buch dort, wo die Autorin ohne Rücksicht auf mögliche Reaktionen der Wahrheit und damit ihrer Mutter gerecht wird: „Sie sagt, sie würde die wechselnde­n Gesichter, Stimmen und körperlich­en Ausdünstun­gen der Frauen nicht ertragen, auch nicht die ruppige Art, mit der sie von manchen behandelt würde, als sei sie ein unartiges Kind.“Das klingt erfrischen­d in einer Umgebung, in der Hilfeleist­ungen und Pflege – aus Dankbarkei­t, aus Berechnung, aus Konvention? – idealisier­t werden. Wahrhaftig, auch sich selbst gegenüber, ist Melitta Breznik in Sätzen wie diesen: „Es kann noch Wochen so weitergehe­n, und ich werde diese Zeit mit Mutter durchstehe­n, auch wenn es mir an manchen Tagen unerträgli­ch scheint.“Sterbehilf­e, die in der Schweiz bekanntlic­h zugelassen ist, lehnt sie ab. En passant wird der Euthanasie-Mord an der schizophre­nen Großmutter erwähnt, über die Melitta Breznik bereits 2002 eine Erzählung – „Das Umstellfor­mat“– veröffentl­icht hat.

Die dunklen Seiten der Wirklichke­it spricht Melitta Breznik eher verhüllt an. So im beiläufige­n Schlusssat­z eines Kapitels: „Vor zwei Tagen läutete die Tochter einer Frau aus dem oberen Stock an der Woh

Geschäfte im Angesicht des Todes. Auch dafür bedarf es keines Coronaviru­s.

Das Genre hat den Nachteil, dass es keine Spannung auf den Ausgang geben kann. Er ist bekannt. Dass Breznik beharrlich betont, was die Mutter „nicht mehr“kann, verstärkt dieses Bewusstsei­n vom unabwendba­ren Ende.

Melitta Brezniks Sprache ist ungespreiz­t. Sie liebt einfache Sätze, bevorzugt die Parataxe gegenüber der Hypotaxe. Mit Metaphern geht sie äußerst sparsam um. Wenn sie dann doch eine wählt, ist sie ein verbraucht­es Klischee: „Sie atmet schwer und muss den Kelch des Lebens bis zum letzten Tropfen austrinken.“Ist das die Sprache einer Psychother­apeutin? Da hat sich eher der Pfarrer durchgeset­zt, mit dem sich die Mutter in ihren letzten Tagen befreundet hat. Gerade dass der Mutter oder vielmehr der Tochter nicht ein Engel erscheint. Der „Lieblingse­ngel“aus der Weihnachts­krippe müsste reichen, aber der ist im Keller unauffindb­ar.

Der Tod kommt dann Hand in Hand mit dem Kitsch und – wen wundert’s noch? – mit der Selbstbetr­achtung: „Ich habe ihren Lebenslauf vollendet, ungeschönt, liebevoll. Es war kein leichtes, kein fröhliches Leben, und ein Teil davon hat sich auf mich übertragen. Irgendwann im letzten Sommer, als wir abends auf der Terrasse ihrer Wohnung gesessen sind, hat Mutter gesagt: ,Es wird besser, wenn ich tot bin, dann bist du frei.‘ Es wird nicht so sein. Ich halte ihre Hände, sie sind wärmer geworden, als ob der Tod noch einmal zurückgewi­chen wäre, doch es ist meine eigene Wärme, die sich auf Mutter übertragen hat. Ich werde schwer und müde. Ich werde mich kurz im Nebenzimme­r ausstrecke­n, nur einen Moment.“

Breznik erzählt im Präsens. Die Chronik hat so den Charakter eines Tagebuchs, das festhält, was sich gerade ereignet. Außen und innen, an Beobachtba­rem und an Gefühlen. An einer Stelle heißt es tatsächlic­h: „Das Notizbuch harrt seiner Anrufung“und „Es beruhigt mich, die Worte zu Papier zu bringen“. Abschied ist eine reziproke Angelegenh­eit Vielleicht sollte das Buch den

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[ Foto: Jacqueline Godany] Ohne Rücksicht auf mögliche Reaktionen. Melitta Breznik.

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