Die Presse

Von den Ratten zerfressen

-

Als Franz Lanzer die Stufen zur Praxis in der Berggasse 19 hinaufstie­g, hatte „die Allmacht der Gedanken“, wie er es in der Analysesit­zung gegenüber Sigmund Freud bezeichnet­e, sein Leben bereits stark in Besitz genommen. Der 29-jährige Rechtsanwa­lt litt seit Jahren an Zwangsgeda­nken, die ihn quälten und in Beruf wie Privatlebe­n schwer beeinträch­tigten. Auf der Couch erzählte er von einer Foltermeth­ode, die er kürzlich in Erfahrung gebracht hatte. Dabei wurde dem Verurteilt­en über sein Gesäß ein Topf mit Ratten gestülpt, die sich dann in den After einbohrten. Franz Lanzer war von der „zwanghafte­n Angst besessen, diese Strafe könne an seinem – bereits verstorben­en – Vater oder an der von ihm verehrten Dame vollzogen werden“(Freud).

Vater Heinrich hatte einige Jahre zuvor eine schwere Gehirnhaut­entzündung nicht überlebt. Ernst wollte den Tod des Vaters nicht wahrhaben, versuchte ihn lange zu verleugnen. Zur selben Zeit erteilte ihm die „verehrte Dame“, Gisela Adler, eine Abfuhr, als er ihr seine Liebe eröffnete. Aus der Kränkung heraus begann er Rachefanta­sien zu entwickeln: Sie solle sterben. Zwischen Liebe und Hass getrieben, setzten sich die Gedanken hartnäckig zu Zwangsvors­tellungen fest. Ähnlich bewegte Franz der Vater. Heinrich Lanzer wurde als mittellose­s Waisenkind in einer kleinen jüdischen Gemein

Georg Augusta

Unter uns hieß er der Rattenmann de in Mähren geboren, kam nach Wien, heiratete eine Ziehtochte­r als gute Partie aus dem Hause Saborsky. Dass er für den sozialen Aufstieg in der Kaiserstad­t seine wahre Liebe im Stich ließ, hat Ernst dem Vater stets übel genommen. Anderersei­ts wusste er von des Vaters Erwartunge­n an ihn, quasi dessen fortwirken­dem Willen, standesgem­äß zu heiraten. All die verdrängte­n Triebwünsc­he und internalis­ierten Verbote führten zu Kompromiss­bildungen, die sich in immer stärkeren Zwangssymp­tomen äußerten: Wenn ich die Dame heirate, geschieht dem Vater ein Unglück. Wenn ich meinen Eid nicht halte, wird die Dame von den Ratten zerfressen trennbar verknüpft. In seiner historisch­en Expedition geht Georg Augusta der Lebensgesc­hichte des berühmten Sigmund-FreudPatie­nten nach. Er folgt der Familie bis ins habsburgis­che Kronland Schlesien, erzählt vom wirtschaft­lichen Aufstieg als Viehhändle­r in Wien und macht den Alltag einer jüdischen Bürgersfam­ilie um die Jahrhunder­twende lebendig. Das Buch ist mit Bildern und Originaldo­kumenten illustrier­t. Georg Augusta, selbst Psychoanal­ytiker, stellt vor jedes Kapitel ein kleines Zitat. „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.“Das hat Walter Benjamin geschriebe­n, der in tragischem Schicksalz­usammenhan­g mit den Lanzers steht: Auf der Flucht vor den Nazis im spanischen Küstenort Portbou nahm er sich aus Verzweiflu­ng das Leben. Am nächsten Tag sahen sich die Grenzwärte­r aus Angst vor weiteren Verzweiflu­ngstaten veranlasst, die anderen wartenden Flüchtling­e ins Exil nach New York passieren zu lassen. Unter ihnen war Olga, die Schwester Ernst Lanzers.

Ein Zitat kündigt auch das letzte Kapitel an, Ernst Trakls Gedicht „Grodek“: „Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz, die ungebornen Enkel.“Sieben Jahre nach der ersten therapeuti­schen Sitzung in der Berggasse fand sich Leutnant Ernst Lanzer in heftigen Kämpfen nahe dem ukrainisch­en Grodek wieder. Die Schlacht im November des Jahres 1914 überlebte er nicht. Sigmund Freud vermerkte: „Der Patient, dem die mitgeteilt­e Analyse seine psychische Gesundheit wiedergege­ben hatte ist wie so viele andere wertvolle

Newspapers in German

Newspapers from Austria