Ibiza `a la Brasilia: Ein Video als Sittenbild der Bolsonaro-Clique
Brasilien taumelt in der Coronakrise in eine Staatskrise, die den ultrarechten Präsidenten entzaubert. Eine Tragödie – jetzt, da Führungskraft gefragt wäre.
Jetzt hat auch Brasilien „seine“Version des Ibiza-Videos. Wochenlang hatte die Nation über eine Regierungssitzung des Präsidenten Jair Bolsonaro geraunt, in der es heftig und deftig zugegangen sein soll. Mit dem Sanktus der Justiz platzte am Wochenende ein Mitschnitt just mitten am bisherigen Zenit der Corona-Epidemie, die das Riesenland zwischen Amazonas und den Iguazu´-Fällen im Süden immer stärker in einen Abwärtssog zieht. Massengräber in Sao˜ Paulo und Manaus schockieren die Brasilianer, und die Coronakrise könnte sich zu einer veritablen Regierungskrise, am Ende womöglich sogar zu einer Staatskrise auswachsen.
Wie die Finca-Falle für Heinz-Christian Strache und seinen Adlatus Johann Gudenus auf der balearischen Party-Insel stellt das Video der Kabinettssitzung in Brasilia den Staatschef und seine „Spießgesellen“bloß. Da zetert Bolsonaro in Kraftausdrücken über die Gouverneure in Sao˜ Paulo und Rio de Janeiro, die seine Politik in der Coronakrise konterkarieren und eine Quarantäne verhängt haben, um eine Explosion der Covid-Infektion in den Metropolen samt ihren Favelas einzudämmen. Da tobt er gegen den Polizeichef und die Exekutive, da will der Bildungsminister die Höchstrichter am liebsten ins Gefängnis werfen. Und da schlägt der Umweltminister zynisch vor, im Schatten der Pandemie Regularien auszuhebeln, um den Kahlschlag am Amazonas zu forcieren. Was
das Video offenbart, ist Bolsonaro pur: Ungeschminkt, derb, Populismus in Reinkultur, ohne Respekt und Sinn für die Gewaltenteilung eines demokratischen Rechtsstaats. Es ist die Enthüllung eines Sittenbilds der Machtclique um Bolsonaro und seinen Familienclan, einen Möchtergern-Trump in Miniaturformat. Daraus spricht die Verachtung eines Reserveoffiziers und früheren Fallschirmjägers für die demokratische Ordnung, der noch nie ein Hehl aus seinem Faible für das Militär gemacht und die 20-jährige Ära der Junta schönfärberisch verklärt hat.
Das wussten die Brasilianer, als sie einen Hinterbänkler und x-fachen Parteiüberläufer 2018 zum Präsidenten gewählt haben. Bolsonaro war angetreten, um der endemischen Korruption im Zuge einer Skandalserie, die das politische und wirtschaftliche Establishment verschlungen hat, ein Ende zu bereiten und angesichts der grassierenden Kriminalität für Sicherheit zu sorgen. Brasiliens Mittelschicht war der blassen Lula-Nachfolgerin Dilma Rousseff überdrüssig, die in einem fragwürdigen ImpeachmentProzess 2016 das Präsidentenamt verlor; sie hatte genug von den politischen Kabalen und dem korrupten Kurzzeit-Präsidenten Michel Temer.
Und da kam Bolsonaro, der ultrarechte Populist und Lautsprecher, gerade recht mit seiner Mixtur aus autoritären Rezepten, der Neigung zu unausgegorener Esoterik und der Anziehungskraft auf die große evangelikale Gemeinde. Über die Breitenwirkung der sozialen Medien schaffte er die Sensation im größten Land Lateinamerikas. Seither polarisiert der Anwalt der mächtigen Agrarindustrie das Land, und es mutet wie eine Pointe an, dass das Abenteuer in einem Amtsenthebungsverfahren enden könnte.
Die Coronakrise fungiert wie ein Brennglas, das Schwächen und Blößen maximal vergrößert. Wo Führungskraft und klare Linie gefragt wären, regiert Krisenmanagement by Chaos inklusive der Rücktritte zweier Gesundheitsminister binnen vier Wochen und der Verabreichung eines Malariamittels, das die Todesrate noch erhöht. Der Wirrkopf Jair Bolsonaro übertrumpft sein großes Vorbild in Washington um Längen, und insgeheim hoffen manche auf einen stillen Putsch des Militärs – das mit mehr als einem halben Dutzend ExGenerälen am Kabinettstisch freilich ohnehin mäßigenden Einfluss ausübt.
Jair Bolsonaro erweist sich als Tragödie für Brasilien – unfähig, sein Land in der Coronakrise vor Übel zu bewahren und untauglich für die heraufziehende massive Wirtschaftskrise. Seine eigenen Machtinteressen sind ihm wichtiger als das Wohl der Nation: Dies belegt das Video eindrucksvoll. Es zeigt, dass Populisten vom Schlage Bolsonaros Krisenzeiten nicht gewachsen sind. Es ist eine bittere Erkenntnis für all jene, die den Bolsonaros dieser Welt auf den Leim gehen und zum Teil mit ihrem Leben bezahlen.