Das durchwachsene erste Jahr des Wolodymyr Selenskij
Ukraine. Der Präsident versprach den Bürgern eine „neue Ukraine“. Doch politisches Hickhack und die Coronakrise haben seinen Plan torpediert.
Moskau/Kiew. Das natürliche Grün des Mariinskij-Parks ersetzte dieses Mal die knallgrünen Banner, die bei früherer Gelegenheit von der Anwesenheit Wolodymyr Selenskijs kündeten. Anlässlich seines Ein-Jahr-Amtsjubiläums hatte der ukrainische Präsident in der Vorwoche zu einer Pressekonferenz in Kiew geladen. Sie fand vor dem Mariinskij-Palast oberhalb des Dnipro-Ufers statt.
Holzsessel standen mit ausreichend Abstand auf dem Rasen. Der Präsident nahm vor den Reportern auf einem niedrigen Podest Platz. Nach drei Stunden war der Termin wieder vorbei. Noch im Oktober hatte er 14 Stunden mit Journalisten in einem hippen Kiewer Food-Markt verbracht. War die Coronakrise der Grund für die Eile? Oder war diese auch der Tatsache geschuldet, dass das Fazit über das erste Jahr der Präsidentschaft Selenskijs durchwachsen ausfällt?
In seiner Kampagne hatte Selenskij den Ukrainern eine umfassende Neuordnung des politischen Systems versprochen: ein gutes
Leben, soziale Gerechtigkeit sowie eine Lösung des Konflikts in der Ostukraine. Die Wähler, desillusioniert von der politischen Elite, hatten dem Ex-Komiker vertraut. Nachdem ihn 73 Prozent bei der Stichwahl unterstützt hatten, erlangte seine eilends gegründete Partei „Diener des Volkes“bei der Parlamentswahl wenig später sogar eine Zweidrittelmehrheit.
Anti-Establishment-Rhetorik
Mit seinem integrativen Programm, das die Gemeinsamkeiten zwischen Bevölkerungsgruppen betont, vermochte der 42-Jährige Wähler in allen Landesteilen anzusprechen – für das vom Konflikt im Donbass aufgeriebene Land eine positive Entwicklung. Gleichzeitig setzte Selenskij auf populistische Rhetorik gegen das politische Establishment, was ihm zweifelsohne Sympathien im Volk einbrachte, jedoch Fragen über sein demokratisches Verständnis aufkommen ließ.
Ein Jahr nach seinem Amtsantritt hat Selenskijs Image als Heilsbringer und Saubermacher gelitten. Immerhin: 57 Prozent der Bürger vertrauen ihm.
Die Hoffnung auf schnellen Wohlstand im Land hat sich bisher aber nicht erfüllt. Zwar bemühte sich der Präsident mit sympathischem Aktionismus um Investoren, und auch das Wirtschaftswachstum zog moderat an, doch machte die Coronakrise den Bemühungen einen Strich durch die Rechnung. Nunmehr wird für 2020 ein Rückgang des BIPs von fünf bis zehn Prozent erwartet. Auch den Friedensbemühungen im Osten hat die Pandemie vorerst einen Riegel vorgeschoben.
Comeback Saakaschwilis
Bezüglich der Reformfreudigkeit der neuen Regierung waren die Signale stets gemischt. Häufige Personalwechsel und die Abberufung von Experten ließen vor allem ausländische Beobachter verwirrt zurück. Ob die Einsetzung des umstrittenen georgischen ExPräsidenten Micheil Saakaschwili als Reformberater eine weise Entscheidung war?
„Die Oligarchen können keinen Druck auf mich ausüben“, sagte Selenskij bei seiner Pressekonferenz. Tatsächlich ging er auf Distanz zu seinem prominenten Förderer Ihor
Kolomojskij, der Entschädigung für seine 2016 verstaatlichte „Privatbank“forderte. Internationale Geldgeber hatten stets klargemacht, dass eine Kompensation das Überschreiten der roten Linie wäre.
Eine zweite Amtszeit?
Das ukrainische Parlament verabschiedete unlängst – übrigens gegen die Widerstände von Teilen der „Diener des Volkes“– ein entsprechendes Bankengesetz. Der IWF sagte daraufhin einen Kredit über 4,6 Milliarden Euro zu, der dem Land durch die Coronakrise helfen soll. Kolomojskij mag ausgebootet sein, den Einfluss der Oligarchen hat Selenskij indes nicht begrenzt. Schon ist die Rede von einem Comeback des Donezker Geschäftsmanns Rinat Achmetow, einst wichtigste Stütze von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch.
Aufhorchen ließ Selenskij bei seinem Pressetermin mit der Ankündigung, dass er sich eine weitere Amtszeit vorstellen könnte, „wenn es Unterstützung im Volk gibt“. Vor einem Jahr hatte er das noch kategorisch ausgeschlossen.