„Wir müssen den Menschen neu denken“
Interview. Der Historiker und Publizist Philipp Blom sieht unser Modell der Zivilisation am Ende. Über Klima, Viren, kranken Konsum, das falsche Menschenbild der Aufklärung – und wie wir unseren eigenen Stephansdom bauen können.
Die Presse: Alle machen sich profunde Gedanken zu Corona, Sie nicht. Warum? Philipp Blom: Es war noch nicht genug Zeit zum Nachdenken. Ich könnte nichts sagen, was dem allgemeinen Geschnatter voraus ist – also nur mitschnattern. Dann würde ich in eine liberale oder in eine linke Schublade passen. Das interessiert mich nicht. Nur so viel: Wir erleben jetzt, wie wenig erhaben wir über die Natur sind. Dass die fortschrittlichste Zivilisation durch eine blöde kleine RNA-Kette von einem Tiermarkt in China zum Stillstand gebracht werden kann. Dass wir verletzliche Organismen sind und die Natur nicht zähmen können.
Ihr Thema bleibt die „Klimakatastrophe“? Ja. Die Epidemie ist ein viel kleineres Ereignis, das sich viel einfacher beherrschen lässt. Aber wir leben am Ende einer Weltsicht und eines Zivilisationsmodells, das uns nicht mehr nützt, sondern schadet.
Sie haben über die Klimakrise der Kleinen Eiszeit im 16./17. Jahrhundert geschrieben. Was können wir daraus lernen?
Die Niederlande merkten damals, dass die alte Ordnung nicht mehr funktioniert, dass sie etwas ändern müssen. Sie haben von dieser Krise profitiert. Das habsburgische Spanien ruhte sich darauf aus, dass es reich, mächtig und von Gott geliebt war, und es ist an dieser Krise zerbrochen. Für neue Verhältnisse braucht man neue Denkstrukturen. Damals war es die Aufklärung, weil die Krise die Mittelschichten stärkte. Sie brachte das skandalöse Argument, dass alle Menschen gleich sind. Das ist heute unser natürlichster Reflex, so sehen wir Menschen. Dabei war es ein radikaler Bruch. Auch heute müssen wir den Menschen neu denken.
Inwiefern denken wir bisher falsch?
Dieses „Macht euch die Erde untertan“. Wir müssen einsehen, dass wir als Teil der Natur nicht über die Natur erhaben sind und als ein Agent unter vielen mit anderen natürlichen Systemen zusammenarbeiten müssen.
Warum sollten wir den Klimawandel nicht durch technologische Lösungen bewältigen, wie viele Umweltprobleme davor? Dafür fehlt uns die Zeit. Das Problem lässt sich auch nur durch einen neuen Zugang zur Welt lösen, durch ein anderes Leben. Ich will nicht zurück auf die Bäume. Ich bin ein Fan von moderner Medizin, ohne sie wäre ich schon fünfmal gestorben. Aber wir müssen die Technologien für etwas anderes einsetzen als für Hyperkonsum. Den wird es nicht mehr spielen.
Wirtschaftswachstum wurzelt aber im technischen Fortschritt. Er sorgt dafür, dass Sie länger leben, und zugleich dafür, dass Produkte billiger werden, sodass mehr Menschen mehr davon konsumieren können. Wie wollen Sie das trennen? Das ist ein echtes Problem. Es wird ein schwieriger Balanceakt. Aber es gäbe ein Maß der Begrenzung, das niemandem wehtut, weil unser Konsum völlig krank ist. Wie die „Fast Fashion“, wo 80 Prozent der Ware
(50) ist ein deutscher Historiker und Schriftsteller, der in Wien lebt. Er schreibt historische Sachbücher und Romane. Viel Erfolg hatten seine Werke „Der taumelnde Kontinent“, „Böse Philosophen“und „Die Welt aus den Angeln“über Phasen des Umbruchs in der Geschichte. 2018 hielt er eine breit diskutierte Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen. Daraus entstand:
Der neue Essay ist soeben bei Zsolnay erschienen (124 Seiten, 18 €). weggeworfen wird. Heute konstruieren Menschen ihre Identität über ihre Konsumentscheidungen: Ich trage dieses Designerlabel, fahre dieses große Auto, deshalb bin ich was im Leben. Diese Identität baut auf Hyperkonsum. Wir brauchen andere Systeme der Wertschätzung. Und dazu brauchen wir neue Bilder und Geschichten.
Das geht aber auch nicht von heute auf morgen . . .
Vor 100 Jahren waren junge Leute bereit, für Kaiser und Vaterland zu sterben – heute keiner mehr. So radikale Veränderungen unserer moralischen Instinkte sind möglich.
Sollen Künstler die neuen Bilder und Geschichten liefern?
Auch sie, aber nicht nur sie. Shakespeares Figuren zerbrechen an den Umständen, aber diese Umstände werden nie in Frage gestellt. Dann kommt Schiller. Seine Figuren sagen: „Die Umstände sind falsch“, sie wollen die Welt ändern. Das kann Kunst. Aber das kann auch jeder Stammtisch und jedes Familientreffen. Wenn die Kinder sagen: Nein, das glaub ich nicht. Wenn Eltern neu über Dinge nachdenken müssen.
Ein Bild, eine Ikone gibt es ja schon: Greta. Aber sie weckt bei vielen Aversionen . . . Bei vielen Männer eines gewissen Alters. Es stört sie, dass sie ein Mädchen ist, aber auch ihre Kompromisslosigkeit, dass sie keinen Spielraum offenlässt für gönnerhafte Begütigung älterer Herrn. Sie entschuldigt sich für nichts, sondern konfrontiert mit schwarzweißen Szenarien. Dann muss man als älteres Semester zugeben, dass man Dinge sehr lang nicht gesehen hat, falsch gemacht hat, ein Teil des Problems war. Und das tut man nicht gern.
Die schnellste Lösung sind immer Verbote durch den Staat. Setzen Sie darauf?
Jedes Verbot kann umgangen werden. Es geht darum, dass wir gemeinsam lernen, etwas anderes zu wollen. Wir haben heute keine Vision, keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wir sind so reich und sicher, dass es das Beste scheint, den Status quo zu erhalten. In einer solchen Situation zerbröselt eine Gesellschaft. Sie braucht ein geteiltes Projekt. Wie der Stephansdom, von dem der Baumeister wusste, er würde ihn nie fertig sehen, auch seine Enkel nicht. Dieses Projekt hat einer Gesellschaft etwas anderes gegeben als nur ökonomischen Nutzen.
Auf den Markt vertrauen Sie auch nicht? Märkte sind wichtig. Wir wollen heute in pluralistischen Gesellschaften leben. Da ist ein Markt ein nützlicher Mechanismus, weil er Menschen mit ganz unterschiedlichen Zielen und Lebensentwürfen zum regelbasierten Handeln ermutigt. Durch Marktanreize können neue, bessere Praktiken entwickelt werden, die uns helfen. Im Moment stellt er sich aber der Transformation entgegen. Von Managern höre ich: Wir wollen ja Rahmenbedingungen, wie CO2-Steuern. Aber so lang etwas für uns ein Wettbewerbsnachteil ist, weil es die anderen nicht tun, werden sie es auch nicht tun.
Sie kommen von der Aufklärung, haben ein schönes Buch über die Enzyklopädisten geschrieben. Heute schreiben Sie den Menschen klein: Er sei „weniger wichtig als Plankton“, ein schädlicher Organismus, zu rationalem Handeln nicht fähig. Ist das nicht Gegenaufklärung? Hat sich Ihr Denken gewandelt?
Es hat sich verkompliziert. Die Aufklärung war wichtig, weil sie forderte, sich von der Tradition zu lösen. Aber dieses Denken ist theologisch gekidnappt worden, es wurde zum säkularisierten Echo der Bibel. Der Fortschritt hat viel zu tun mit der christlichen Heilsgeschichte, die aufklärerische Vernunft mit der christlichen Seele – weil sie der edle, immaterielle Teil des eigenen Lebens ist, für den man den Körper mit seinen Instinkten bekämpfen muss. Die Freiheit als Kern des Menschseins ist wichtig für das Christentum, denn ohne sie keine Sünde und ohne Sünde keine Vergebung. Aber wir sind keine rationalen Personen, die frei entscheiden, autark und vom Rest der Natur getrennt. Wir tragen Viren-DNA in uns.
Wie soll die Menschheit mit einer so negativen, fatalistischen Selbstsicht mutig und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken?
Wir müssen so tun, als ob wir frei handeln könnten. Es lässt sich keine Gesellschaft gestalten, wenn wir niemandem Verantwortung für sein Handeln zusprechen. Dann könnten wir auch niemanden sanktionieren, der jemanden umbringt oder stiehlt.
Ist das nicht schizophren?
Ja. Aber in dieser Kluft findet Wissenschaft statt. Wir haben nach der biblischen Idee eine Gesellschaft für Wesen geschaffen, die außerhalb der Natur stehen. Aber solche Wesen sind wir nicht. Es gilt zu ergründen: Was können wir über diese Primaten sagen, die wir sind? Was können wir von anderen Tieren lernen? Wie konstruieren wir uns die Welt? Unter welchen Umständen handeln wir solidarischer und weniger aggressiv? Das ist ein Forschungsprojekt, kein politisches Projekt einer idealen Gesellschaft – was meist in Diktaturen geendet hat.
Sie haben sich Sorgen über den wachsenden Populismus gemacht. Kann er in der Klimadebatte neu aufleben?
Es ist wichtig, dass Gesellschaften sich Geschichten erzählen. Es gibt aber auch falsche Geschichten. An den absurden Verschwörungstheorien sieht man – wie auch an den meisten Religionen –, wie verzweifelt sich Menschen bemühen, an etwas zu glauben, was ihrem Leben einen Sinn verleiht. Und das sind oft nicht die Geschichten, die Leid mindern. Sie identifizieren einen Sündenbock und rechtfertigen, dass ich auf der Seite der Opfer und der Gerechten bin. Das ist eine Gefahr, besonders in einer Notsituation. Und in einer Gesellschaft ohne Perspektive sind diese Geschichten mächtiger. Wie ist eine solche Perspektive in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft zu schaffen? Die drohende Katastrophe und die historische Chance starren uns ins Gesicht. Wir können etwas tun. Wir können unseren eigenen Stephansdom bauen.