„Ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt!“
Literatur. Monate mit der belastenden Coronakrise: Bisher gibt es kaum Chancen auf Urlaub in so manchem Traumland. Wie überbrückt man das Warten? Man könnte mit Dichtern virtuell auf Reisen gehen. Zum Beispiel mit Goethe nach Italien.
Seit Beginn des 17. Jahrhunderts galt es in besseren französischen, britischen und deutschen Kreisen als chic, die Alpen zu queren und eine „Grand Tour“durch Italien zu machen. Sie leisteten sich eine Bildungsreise zu den Stätten der Antike. Nützliches wurde mit dem Angenehmen verbunden, mit mediterraner Lebensart, die man im Norden als lockerer empfand. Aufklärung in jeder Hinsicht. Die Sehnsucht nach dem Land, in dem die Zitronen blühen, hat sich gehalten, sie ist auch noch im modernen Tourismus als Herdentrieb präsent.
Wenn derzeit eine Destination wie Italien für Liebhaber des Südens seit März fast unmöglich scheint – warum sich nicht lesend auf den Weg machen? Statt mit einem banalen Reiseführer mit einem reflektierenden Geist. Für Johann Wolfgang Goethe war die „Italienische Reise“, als er 1786–1788 das Land durchmaß, wesentlich. Er hat sich dort in einer Krise in der Mitte seines Lebens erneut als Dichter und Denker gefunden.
Der Aufbruch war abrupt. Eben erst hatte er in Karlsbad Geburtstag gefeiert. Sein Dienstherr, Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, war dort ebenfalls auf Kur, so wie viel Adel und die befreundeten Herders. Da stahl sich Goethe am 3. September 1786 um drei Uhr Früh heimlich weg. Er ging damit auch auf Distanz zu seinem ersehnten Lebensmenschen Charlotte von Stein. Er musste einfach weg, er wäre sonst zugrunde gegangen, beichtete er ihr später.
21 Monate Auszeit in Arkadien
Goethes Mutter schilderte, wie sehr der Gedanke an Rom für ihren Sohn seit früher Jugend „in seine Seele geprägt“war. Der Genuss der Meisterwerke der Vorwelt würde ihn sein ganzes Leben ergötzen – auch seine Freunde würden mitgenießen, schrieb die Mama im März 1787 an Altherzogin Anna Amalia: „denn er hat die Gabe, ziemlich lebendig die Dinge darzustellen.“Da war der Bub bereits ein halbes Jahr in „Arkadien“.
Lassen wir uns das Fernweh vom Dichterfürsten anschaulich machen. Ab wann ist man in Italien? Einen Vorgeschmack gab es bereits in München. Dort aß Goethe Feigen. Sie waren teuer und nicht sehr gut, doch das exotische Obst diente zur Einstimmung. Den ersten Blick aufs Land gab es am Brennerpass. Goethe erreicht ihn am 8. September 1786. Im Tagebuch, das er Frau von Stein sandte, steht: „Von hier fliesen die Wasser nach Deutschland und nach Welschland diesen hoff ich morgen zu folgen.“
Die erste Begegnung mit der Antike, die ihm auffällt, hat er eine Woche später in Verona: „Das Amphitheater ist also das erste bedeutende Monument der alten Zeit, das ich sehe, und so gut erhalten.“Es wolle nicht leer gesehen werden, sondern voll von Menschen. Welcher Opernbesucher in der Arena in unseren Tagen könnte Goethes Beobachtung nicht nachempfinden? Eigentlich sei nämlich so ein Theater „recht gemacht, dem
Volk mit sich selbst zu imponieren, das Volk mit sich selbst zum besten zu haben.“In Vicenza hielt er einige Tage, um Bauten Palladios zu studieren. Die Gotik, die er seit der Straßburger Zeit geschätzt hatte, war vergessen: „Das ist freilich etwas anderes, als unsere kauzenden, auf Kragsteinlein über einander geschichteten Heiligen . . .“
Klassik war das neue Gebot. Ziel der Begierde: Rom. „Über das Tiroler Gebirg bin ich gleichsam weggeflogen. Verona, Vicenz, Padua, Venedig habe ich gut, Ferrara, Cento, Bologna flüchtig und Florenz kaum gesehen.“Nach fast zwei Monaten war es so weit: „Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt“, jubelte der Dichter am 1. November. Er fühlte „eine wahre Wiedergeburt“. Beinahe vier Monate blieb er dort, bei der Rückreise noch länger, bewunderte die antiken Kunstwerke wie auch Michelangelo. Raffael weniger. Goethe schwärmte auch für den römischen Karneval, suchte die Nähe von Malern. Der besseren Gesellschaft blieb er angeblich fern. Ihn interessierten Wissenschaft und Künste. Bald schätzte er seine zeichnerischen Fähigkeiten realistisch ein und schrieb, „dass ich auf das Ausüben der bildenden Kunst Verzicht tue“. Stattdessen wandte er sich wieder dem Dichten zu, vollendete „Iphigenie“, „Egmont“, schrieb neue Szenen für „Faust“, arbeitete am „Tasso“. Auch die „Urpflanze“beschäftigte ihn, die Idee verfestigte sich anschaulich in Sizilien.
Verliebt in die Liebe in Rom
Das herrschende Gefühl: Glück. Auch in der Liebe? Eine Faustina, die in den „Römischen Elegien“verewigt wurde, soll ihn darin eingeweiht haben. Immer wieder auch schreibt er über die Naturschönheit, etwa vor seinem Abschied aus Neapel am 2. Juni 1787. Es dämmert bereits: „Wir standen an einem Fenster des oberen Geschosses, der Vesuv gerade vor uns; die herabfließende Lava, deren Flamme bei längst niedergegangener Sonne schon deutlich glühte und ihren begleitenden Rauch schon zu vergolden anfing; der Berg gewaltsam tobend, über ihm eine ungeheure, feststehende Dampfwolke, ihre verschiedenen Massen bei jedem Auswurf blitzartig gesondert und körperhaft erleuchtet.“Der zweite Abschied von Rom im April 1788: Nächstens zum Kapitol, „wie ein Feenpalast in der Wüste“stand es da. „Als ich aber den erhabenen Resten des Koliseums mich näherte und in dessen verschlossenes Innere durchs Gitter hineinsah, darf ich nicht leugnen, dass mich ein Schauer überfiel und meine Rückkehr beschleunigte.“
Wann war Arkadien wieder entschwunden? In Mailand, das in diesen Lebenserinnerungen gar nicht mehr vorkommt? In der Via Mala in Graubünden, die Goethe zeichnete? Die Antwort ist vor allem atmosphärisch. Strömender Regen in Chur. Nördlich der Alpen würde es ein besonders schlechter, kalter Sommer werden. Goethe war also im Gemüte längst zurück, eher er am 18. Juni 1788 bei Vollmond in Weimar eintraf.