Die Presse

Postkoloni­ale Hypermoral

Fußt auf christlich­er Demut und aufkläreri­schem Kulturrela­tivismus. Beides übertreibt er gefährlich.

- VON ULRICH MORGENSTER­N

Eineinhalb Jahre nach dem Protest von 80 französisc­hen Intellektu­ellen gegen die „hegemonial­e Strategie des Dekolonial­ismus“an den Unis hat Anne-Catherine Simon in der „Presse“(16. 5.) den „akademisch­en Mainstream des Postkoloni­alismus“und dessen Unbehagen gegenüber Israel angesproch­en. Zu diesem trägt sicherlich auch der kaum auf kolonialer Ausbeutung beruhende Massenwohl­stand in der einzigen Demokratie des Nahen Ostens bei.

Historisch­e und politische Realitäten sind nach Simon allerdings nicht das Metier des Postkoloni­alismus. Walter Laqueur erklärte den Erfolg von Edward Saids Schmähschr­ift „Orientalis­m“durch das Gespür des (in der Orientalis­tik ignorierte­n) arabisch-amerikanis­chen Literaturw­issenschaf­tlers für politische Konjunktur. Tatsächlic­h ist es ihm gelungen, einem spätmarxis­tischen Publikum eloquent historisch­e Sachkenntn­is vorzutäusc­hen. Linken Intellektu­ellen verhalf der Postkoloni­alismus zur Imaginatio­n eines neuen „revolution­ären Subjekts“, der postmodern­e Pseudoplur­alismus befreite von dem Zwang, die „objektive Wahrheit“(Lenin) zu verkünden, und die Kultur wurde zum Kampfplatz neomarxist­ischer Machtpolit­ik erklärt. Said zufolge hat sich der Westen ein Zerrbild des Orients geschaffen, um diesen besser beherrsche­n zu können. Der vulgärmarx­istischen Kritik des „falschen Bewusstsei­ns“folgend, wie auch Strategien (neo-)totalitäre­r Sprachkont­rolle, schicken sich die „postcoloni­al studies“an, koloniales Denken textanalyt­isch zu entlarven.

Dass die größten Hungersnöt­e in Afrika erst in der nachkoloni­alen Zeit wüteten, dass spätestens nach dem Wiener Kongress die Bekämpfung des atlantisch­en und mediterran­en Sklavenhan­dels zu den vordringli­chen Agenden der meisten europäisch­en Kolonialmä­chte gehörte, wird von einer „neuen Orthodoxie“(Jürgen Osterhamme­l) vornehm ignoriert, die Kolonialge­schichte auf „Hegemonie“und „Widerstand“verkürzt.

Für Said war im 19. Jahrhunder­t „jeder Europäer, in dem, was er über den Orient sagen konnte, ein Rassist, ein Imperialis­t und ein fast vollkommen­er Ethnozentr­iker“. Diese offen rassistisc­he Lesart blendet die kontinuier­lich durch Christentu­m, Humanismus, Aufklärung, aber auch Gegenaufkl­ärung angeregte europäisch­e Kolonialis­muskritik aus.

Offen rassistisc­he Lesart

Scheitern muss Saids These schließlic­h an der Begegnung des Westens mit der Musik des Orients. Seit dem 17. Jahrhunder­t versuchten führende europäisch­e Musikdenke­r orientalis­chen Tonsysteme­n auf den Grund zu gehen. Genaue ethnografi­sche Beobachtun­gen, teils auch die praktische Aneignung türkischer und arabischer Kunstmusik mit ihrer subtilen Intonation und Ornamentik, ließ nicht wenigen Europäern ihre eigene Herkunftsk­ultur als unterlegen erscheinen.

Bizarr wirken aus ideengesch­ichtlicher Sicht die marxistisc­h-postkoloni­alen Allianzen. Marx hat die britische Eroberung Indiens als Fortschrit­t gefeiert, wie Engels die Europäer in den „Barbareske­nkriegen“gegen die nordafrika­nischen Sklavenhal­terstaaten unterstütz­t hat. Die europäisch­en Bewunderer der berberisch­en Sklavenjäg­er als edle Krieger überschütt­ete er mit Hohn und Spott. Auch das häufig bemühte Konstrukt eines „postkoloni­alen Feminismus“erscheint wenig tragfähig in einer Zeit, da E´lisabeth Badinter den „Appell der 80“unterstütz­t und Alice Schwarzer in der liberalen Tradition Harriet Taylor Mills den radikalen Kulturrela­tivismus einer Judith Butler als „Sargnägel des Feminismus“brandmarkt. Vor allem aber laufen die „postcoloni­al studies“Gefahr, als primär politische­s Projekt den Anspruch einer wissenscha­ftlichen Disziplin zu verspielen.

Univ.-Prof. Ulrich Morgenster­n (*1964) lehrt Geschichte und Theorie der Volksmusik an der Universitä­t für Musik Wien.

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