Der schwedische Sonderweg war ein Holzweg
Coronakrise. Schweden hat einiges falsch gemacht. Premier Löfven gerät unter Druck.
Stockholm. Schweden braucht dringend gute Nachrichten – und der unter Druck geratene Ministerpräsident, Stefan Löfven, auch. Deshalb ließ es sich der Sozialdemokrat am Donnerstag nicht nehmen, selbst zu verkünden, dass die Schweden ab 13. Juni ihr eigenes Land wieder uneingeschränkt bereisen dürfen. „Wer keine Symptome hat, darf fahren!“, sagte Löfven. Aber er schob gleich hinterher: „Die Lage bleibt ernst. Wenn die Kurve wieder nach oben geht, werden wir neue Restriktionen einführen.“
Viele Schweden werden die Nachricht mit Erleichterung aufgenommen haben. Für die allermeisten Bürger wäre es undenkbar gewesen, ihre Ferien diesmal nicht im eigenen Sommerhaus verbringen zu dürfen. Es ist der Versuch eines Befreiungsschlags. Denn Stefan Löfven muss sich immer mehr kritische Fragen stellen lassen – nun, da auch sein oberster Epidemiologen um Fehler-Eingeständnisse nicht mehr herumkommt.
Anders Tegnell hatte am Mittwoch in einem Interview mit dem schwedischen Radio eingeräumt: „Ja, wir hätten von Anfang an härtere Maßnahmen treffen sollen.“Ob zu viele Menschen zu früh gestorben seien, wurde Tegnell gefragt. Seine Antwort lautete kurz und bündig: „Ja.“
Es ist das erste Mal, dass Tegnell so klar und deutlich sagt, dass etwas schiefgelaufen ist in seinem Land. Trotzdem sieht er den schwedischen Weg nicht für gescheitert an. Zu den offenen Schulen und Kindergärten steht er nach wie vor. Aber Tegnell konzediert, dass man mit dem Wissen von heute einiges hätte besser machen können.
Herdenimmunität? Keine Spur
Denn ganz offensichtlich hat sich das Virus in Schweden deutlich stärker verbreiten können als in vielen anderen Ländern. Gleichzeitig ist man von der erhofften Herdenimmunität nach wie vor weit entfernt. Die jüngste Studie hat gezeigt, dass gerade einmal 7,5 Prozent der Stockholmer Antikörper in sich tragen. Viel zu wenig, wenn man eine immune Gesellschaft erreichen will. Noch vor ein paar Wochen hatte die nationale Gesundheitsbehörde prognostiziert, dass schon im Juni zumindest in Stockholm ein Großteil der Bevölkerung immun sein könnte.
Es ist vor allem die hohe Zahl der Coronatoten, die immer mehr Schweden empört. 4542 sind es aktuell. Weit mehr als in den Nachbarländern Dänemark und Norwegen. Der Hauptgrund sind die vielen Todesfälle in der schwedischen Altenpflege. Viele Kenner des Systems sagen, das sei nicht überraschend. Die Altenpflege sei schon seit Jahren auf Sparsamkeit und Profitabilität getrimmt worden. Viele Pflegekräfte seien auch krank zur Arbeit gegangen, berichtet Anna Skarsjö.
Sie ist selbst Altenpflegerin und arbeitet für die Gewerkschaft Kommunalt. Und noch etwas kritisiert sie: Viel zu lange sei über das Tragen von Schutzausrüstung diskutiert worden. Nach wie vor trage nicht jede Pflegekraft einen Mundschutz. „Die Situation in unseren Altenheimen ist ein Skandal“, sagt auch Johan Styrud, Oberarzt am Krankenhaus in Danderyd und Mitglied des schwedischen Ärzteverbandes.
Schweden liegt bei der Coronasterblichkeit – gemessen an der Bevölkerungszahl – weltweit auf Rang fünf, nach Belgien, Großbritannien, Spanien und Italien und noch vor den USA. Das ist betrüblich und peinlich. Der politische Burgfrieden löst sich langsam auf. Die Opposition verlangt die Einsetzung einer Untersuchungskommission. Die Regierung ist nicht grundsätzlich dagegen, argumentiert aber, dass eine solche Kommission ihre Arbeit erst aufnehmen könne, wenn die aktuelle Krisenbekämpfung zu Ende sei.
Das Vertrauen der Schweden in die Krisenpolitik ihrer Regierung sinkt. Nach einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Novus liegt der Zustimmungswert nur noch bei 45 Prozent. Im April waren es 63 Prozent, im März noch mehr als 70.
Als Touristen unerwünscht
Das liegt aber nicht nur an der hohen Zahl der Covid-19-Toten in Schweden. Vielen Menschen im Land dämmert es langsam, dass der schwedische Sonderweg sie in eine Art Quarantäne geführt hat.
Während Dänen und Norweger ihre Länder langsam wieder hochfahren, bleibt der Schwede eine Persona non grata. Dänemark hält seine Grenzen für Einreisende aus dem Nachbarland ohne triftigen Grund nach wie vor geschlossen und warnt die eigenen Landsleute vor Reisen nach Malmö oder Stockholm. Auch in den Niederlanden, Zypern, Griechenland und Tschechien gelten besondere Einreisebeschränkungen für Schweden. Wer zum Beispiel nach Prag fahren möchte, muss sich bei der Einreise erst einmal einem Coronatest unterziehen.
Das Bild der Schweden in der Welt ist angekratzt. Dabei sollte am 6. Juni das Land eigentlich besonders strahlen. Es ist der schwedische Nationalfeiertag. Der offizielle Slogan in diesem Jahr lautet: „Schweden ist fantastisch – wir haben so viel zu feiern.“Ein Motto wie aus einer anderen Zeit.
Auch die offizielle Zeremonie wird in diesem Jahr sehr viel kleiner ausfallen als sonst. Die Königsfamilie hat coronabedingt abgesagt. Und auch das Publikum bleibt ausgesperrt. Die politische Elite wird sich deshalb weitgehend allein zwischen roten Häuschen und blau-gelben Flaggen im Freilichtmuseum Skansen versammeln. Eine einsame Spitze des Staates. Ein Bild, das mehr sagt als viele Worte.