Die Presse

Biografisc­h geprägter Debütroman

Literatur. Pokemon´ und Bibel, Eutersalbe und ein ertrunkene­r Bruder: Marieke Lucas Rijneveld ist mit ihrem autobiogra­fisch geprägten Debütroman „Was man sät“auf der Shortlist für den Internatio­nal Booker Prize – ein Porträt.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Marieke Lucas Rijneveld steht mit „Was man sät“auf der Shortlist für den Booker Prize.

Spricht man von Marieke Lucas Rijneveld, müsste man, genau genommen, statt „sie schreibt“oder „sie ist“sagen: „sie schreiben“, „sie sind“. Rijneveld, heute 29 Jahre alt, spricht im Plural von sich, wie viele Transgende­r-Personen. Sie – wir bleiben der Leserfreun­dlichkeit halber beim weiblichen Singular – hat ihre Kindheit als Mädchen erlebt, heute versteht sie sich als Mann. Bereits 2019 ließ sie Literaturf­reunde im deutschspr­achigen Raum aufhorchen, als ihr Debütroman „Was man sät“(im Original „De avond is ongemak“) bei Suhrkamp auf Deutsch erschien. Aus der Perspektiv­e der zehnjährig­en Jas wird vom Leben ihrer calvinisti­schen Familie nach dem Unfalltod des Bruders erzählt, an dem sich die Erzählerin schuldig fühlt: Sie hat in einem Moment des Zorns Gott gebeten, den Bruder statt ihres Kaninchens sterben zu lassen.

In Konkurrenz zu Daniel Kehlmann

Nun hat es die englische Übersetzun­g, „The Discomfort of Evening“, auf die Shortlist des britischen Internatio­nal Booker Prize geschafft. Da findet sich Rijneveld Seite an Seite mit dem österreich­ischen Autor Daniel Kehlmann. Dessen Eulenspieg­elgeschich­te aus dem Dreißigjäh­rigen Krieg, „Tyll“, ist ebenfalls unter den Favoriten für den besten ausländisc­hen Roman in englischer Übersetzun­g. 50.000 Pfund winken für das Siegerbuch, das im August bekannt gegeben wird.

Rijneveld wird man sich jedenfalls merken, mit oder ohne Booker-Preis. Dass es bisher nur ein Buch von ihr auf Deutsch gibt, kommt daher, dass sie mehr Lyrik veröffentl­icht hat – die es so schwer über die Sprachgren­zen schafft. Ihr preisgekrö­ntes Debüt, „Kalfsvlies“(„Kalbshaut“), erschien 2015, 2019 folgte ein weiterer Gedichtban­d.

Kälber, Kühe, davon gibt es auch im Roman viele. Er zeichnet eine abgelegene, archaisch wirkende Bauernwelt, in der Kinder noch Eutersalbe geschmiert bekommen, und die der Kindheitsw­elt der Autorin ähnelt. Rijneveld wuchs auf einem Milchbauer­nhof in Nordbraban­t im Süden der Niederland­e auf, in der Nähe von Utrecht: einer Gegend, die man auch den niederländ­ischen Bibelgürte­l nennt. Noch heute arbeitet sie neben dem Schreiben auf einem

Milchhof. Dass ihr Roman viel Autobiogra­fisches enthält, betont sie selbst – deswegen habe es auch so lang gedauert, ihn zu schreiben, sechs Jahre. Sie habe immer wieder ein anderes Buch schreiben wollen, sei aber jedes Mal zu diesem zurückgeko­mmen. „Ich musste diese Geschichte erzählen, bevor ich eine andere erzählen konnte“, sagt sie: Ein Bruder von ihr wurde auf dem Schulweg von einem Auto überfahren.

Wenn im Roman Pokemons´ und das Computersp­iel „The Sims“erwähnt werden oder der Vater wegen der Maul- und Klauenseuc­he zu Massenschl­achtungen gezwungen ist, wirkt das fast bizarr: Denn man wähnt sich beim Lesen nicht in der Gegenwart, eher 100 oder 200 Jahre in der Vergangenh­eit. Dennoch wurde das Buch nach seinem sehr erfolgreic­hen Erscheinen in den

Niederland­en sofort zum Dorfgesprä­ch, die Handlung auf ihre Familie bezogen, erzählt Rijneveld. Das sei für ihre Familie schwer gewesen. Sie selber habe vor allem am Abschied von ihrer Hauptfigur, Jas, gelitten: „Ich konnte nicht mehr in diese Welt flüchten, wenn ich nach Hause kam.“

Allein mit allem – Sexualität und Tod

Jas – auch Jacke genannt, weil sie nach dem Tod ihres Bruders ihre Jacke nicht mehr auszieht – versinkt in einem Abgrund der Einsamkeit, weil die verzweifel­ten Eltern keine Bindung mehr bieten. Mit ihren Geschwiste­rn flüchtet sie sich in eine obskure Welt mit eigenen Gesetzen. Auch in ihrer aufkeimend­en Sexualität sind die Kinder sich selbst überlassen. Rijneveld erzählt das mit Bildern aus Jas’ Fantasie, die Gänsehaut verursache­n. Die Bilderfüll­e verrät auch die Lyrikerin. Tatsächlic­h habe sie den Roman anfangs wie ein Gedicht geschriebe­n, sagt Rijneveld. „Niemand hätte das gelesen.“Erst allmählich habe sie gelernt, den Leser durch die Geschichte zu führen.

Pieter Bruegel lässt dabei ebenso grüßen wie die Filme Ingmar Bergmans, in denen von rigiden Glaubenssy­stemen geprägte Menschen und Familien sich selbst und gegenseiti­g moralisch zerfleisch­en. Und die Bibel. „Die Art, wie ich schreibe, und die Art, wie Jas denkt, das kommt alles von der Bibel“, sagt Rijneveld. „Religion hat mir so viel gegeben.“Diese wirkt in ihrem Roman freilich nicht helfend, sondern zerstöreri­sch. Sie wolle nicht sagen, dass sie nicht mehr glaube, das wäre zu traurig, sagt Rijneveld. Aber Gott sei keine Last mehr für sie.

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 ?? [ Suhrkamp-Verlag ] ?? „Die Art, wie ich schreibe, das kommt alles von der Bibel“: Rijneveld, 29 Jahre alt, wuchs auf einem Bauernhof im niederländ­ischen Bibelgürte­l auf.
[ Suhrkamp-Verlag ] „Die Art, wie ich schreibe, das kommt alles von der Bibel“: Rijneveld, 29 Jahre alt, wuchs auf einem Bauernhof im niederländ­ischen Bibelgürte­l auf.

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