Die Presse

Entstehung einer neuen Protestkul­tur

Demonstrat­ion. Die AntiRassis­mus-Demo in Wien hat alle Erwartunge­n gesprengt. Und erinnert nun in Ansätzen an die Fridays-forFuture-Bewegung.

- VON MANFRED SEEH, JULIA WENZEL, KÖKSAL BALTACI UND EVA WINROITHER

Die Anti-Rassismus-Demo in Wien hat alle Erwartunge­n gesprengt.

Wien. Damit hatte niemand gerechnet. 3000 Menschen waren für die Demonstrat­ion angemeldet gewesen. Schätzungs­weise 50.000 sind gekommen. Es war ein Meer aus Plakaten, auf denen „I can’t breathe“, „All lives matter“oder „White silence is violence“geschriebe­n stand. „Black lives matter“-Sprechchör­e beschallte­n die Kundgebung, die zwischen Museumsqua­rtier und Volkstheat­er ihren Ausgang nahm.

Die vorwiegend jungen Menschen waren gegen Rassismus, gegen Polizeigew­alt auf die Straße gegangen – nach dem gewaltsame­n Tod des Afroamerik­aners George Floyd in den USA. Der Ort des Protests war nicht zufällig. Ebendort befindet sich seit 2003 das Marcus-Omofuma-Denkmal, das an den Tod des nigerianis­chen Flüchtling­s im Jahr 1999 erinnert. Drei Polizisten hatten ihn während seines Abschiebe-Flugs mit Klebeband gefesselt und dabei auch Mund und Nase verklebt. Omofuma erstickte hilflos. Österreich­s Polizei stand daraufhin im Mittelpunk­t einer Rassismus-Debatte.

Die in hinlänglic­h bekannten TV-Spots der Bundesregi­erung geforderte­n Abstände, „so groß wie ein Babyelefan­t“, gab es an diesem Protesttag nicht. Auch die Mund-Nasen-Schutzmask­en wurden nicht konsequent getragen. Zu Beginn rechnete die Polizei mit 10.000 Teilnehmer­n, alle zehn Minuten seien jedoch um die 5000 Personen hinzugekom­men, wie die Landespoli­zeidirekti­on (LPD) Wien später verlautbar­te. Trotz offensicht­licher Übertretun­g der Covid-19-Abstandsre­gel für den öffentlich­en Raum übte sich die Polizei in deutlicher Zurückhalt­ung. Auf einem Dienstfahr­zeug war sogar das Demo-Motto „Black lives matter“in grüner Leuchtschr­ift zu lesen. Da die Gesundheit­sbehörden (Gesundheit­sministeri­um, MA 15 in Wien) keine besonderen Vorgaben gemacht hätten, habe keine Grundlage für eine Auflösung der Demo bestanden, erklärte die Polizei danach. Abgesehen davon, dass Letzteres aufgrund der schieren Menschenma­sse unmöglich gewesen wäre. Außerdem war allen klar, dass es bestimmte Bilder niemals geben solle: Solche, die zeigen, wie Wiens Polizei eine Demo gegen Polizeigew­alt mit Polizeigew­alt auflöst.

Nicht einmal einzelne Verwaltung­sstrafen wurden verhängt. Auch hier gestand man bei der Exekutive zu, dass es wenig Sinn gehabt hätte, einzelne Demonstran­ten einer Amtshandlu­ng zu unterziehe­n. Ganz sicher hätte dies nicht zur Beruhigung der Gemüter beigetrage­n. Insofern hieß es seitens der LPD Wien, dass man auch die für Freitag vor der US-Botschaft in Wien angekündig­te Kundgebung mit angemessen­er Zurückhalt­ung kontrollie­ren werde. Und erinnerte an das neue Zauberwort: „Eigenveran­twortung“.

Der grüne Gesundheit­sminister Rudolf Anschober hatte Erklärungs­bedarf, zur „Presse“sagte er: „Manche Fotos irritieren mich. Denn auch bei Veranstalt­ungen kann es jederzeit zu Übertragun­gen kommen, wenn der Mindestabs­tand nicht eingehalte­n wird. Das Virus ist nicht auf Urlaub. Ich appelliere daher an alle, nicht unvorsicht­ig zu werden und den Mindestabs­tand in allen Bereichen konsequent einzuhalte­n. Wir müssen rasch von dieser ersten Großdemons­tration lernen. Der Pandemiesc­hutz muss auch bei Demonstrat­ionen sichergest­ellt werden“

Also: Ein hehres, gesellscha­ftliches Anliegen, nämlich der Protest gegen Rassismus und Polizeigew­alt hat Zehntausen­de, vor allem junge Menschen, mobilisier­t. Abstand halten war weniger wichtig. Und auch praktisch gar nicht machbar.

Mobilisier­t wurden viele wohl von der (digitalen) Flut an Bildern und Videos aus Paris, London oder Amsterdam, wo man bereits Tage zuvor auf die US-Protestwel­le aufgesprun­gen war. Als reines Social-MediaPhäno­men könne man die Aktion allerdings nicht interpreti­eren, sagt Digitaljou­rnalistin Ingrid Brodnig, weil „tatsächlic­h viele auf die Straße gehen“. Die Plattforme­n würden lediglich den „Anstoß“zur Vernetzung und zum Austausch Gleichdenk­ender geben, um ein Thema „weltweit sichtbar zu machen“. In das Lob für das zivilgesel­lschaftlic­he Engagement mischt sich aber auch Kritik: Gefragt wird, welche probaten Rechtferti­gungen es geben könne – für eine derart große Menschenan­sammlung in Pandemieze­iten. Kann und muss sich das Menschenre­cht auf Meinungs- und Kundgebung­sfreiheit jedenfalls Bann brechen? Fraglich. Im Fall der „Black lives matter“-Demo hatte einfach niemand mit einem derart großen Zuspruch gerechnet. Bei den Veranstalt­ern war der Wille vorhanden gewesen, mit Ordnern und Desinfekti­onsmitteln den Vorgaben zu entspreche­n. Die Kraft des Faktischen aber machte aus einer coronakonf­ormen Kundgebung ein Masseneven­t.

Die hohe Teilnehmer­zahl hat auch den Wiener Politikwis­senschaftl­er Benjamin Opratko „absolut überrascht“. Die Zusammense­tzung der vorrangig sehr jungen Protestier­enden erinnert den Rassismuse­xperten „sehr stark“an jene der Fridays for Future. Opratko spricht dabei von einer Praxis, „die bei den Klimaprote­sten eingeübt wurde und sich nun überträgt“. Tatsächlic­h könnte man derzeit die „Entstehung einer neuen Protestkul­tur“beobachten. „Über das Klimathema hat sich da gerade eine Generation politisier­t“, sagt Opratko. Dass sich diese nun zu „allen großen, politische­n Themen“äußert, sei für sie zur „Selbstvers­tändlichke­it“geworden.

Doch es ging an diesem Tag nicht nur um politische Botschafte­n. Musik und Stimmengew­irr waren im Anschluss an die Kundgebung schon zu hören, bevor man um die Ecke bog und einen guten Blick auf die Karlskirch­e und den Teich davor hatte: Hunderte junge Menschen versammelt­en sich. Sie tanzten auf den Stufen der Kirche. Die Musik dazu hatten sie selbst mitgebrach­t.

Die Sehnsucht nach dem Nachtleben

Rund um den Teich saßen Grüppchen zu fünft, zu sechs, zu zehnt, selten zu zweit, so wie man die Szene von warmen Tagen am Donaukanal kennt. Sie hatten Bier und Getränke dabei, die Überreste der Plakate, die sie davor auf der Demo getragen hatten, lagen neben ihnen oder wurden auf die Säulen der Kirche geklebt. Ein Frühlingsa­bendgewuse­l. Direkt vor der TU machte jemand Musik, Hiphop, sofort wurde getanzt. Corona-Masken sah man im Gewirr nur vereinzelt. Es schien als hätte die Demo auch endlich jene Ausrede geliefert, die schon seit vielen Virus-Wochen gesucht wurde. Eine Ausrede für den kollektive­n Wunsch nach einem unbeschwer­ten Abend mit Freunden, nach Nachtleben. Und ja, nach Party.

Für Montag plane ich einen Runden Tisch, um die Demonstrat­ion zu evaluieren.

Rudolf Anschober Gesundheit­sminister

 ?? [ APA ] ?? Rund 50.000 Menschen kamen am Donnerstag zur „Black Lives Matter“-Demo in der Wiener Innenstadt. Die Abstandsre­gel wurde zumeist ignoriert.
[ APA ] Rund 50.000 Menschen kamen am Donnerstag zur „Black Lives Matter“-Demo in der Wiener Innenstadt. Die Abstandsre­gel wurde zumeist ignoriert.

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