Die Presse

Der perfekte britische Sturm

Großbritan­niens Premier gerät wegen seines Corona-Missmanage­ments massiv in die Kritik. Ein harter Brexit soll ablenken, wird das Land aber noch tiefer in die Krise stürzen.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Wenn gar nichts mehr geht, erklärt man eine Causa in der Politik gern zur Chefsache. Nach dem Scheitern der jüngsten Verhandlun­gen zwischen Großbritan­nien und der EU (siehe Seite 2) am Freitag über die Beziehunge­n nach dem Brexit soll nun zeitnah zum nächsten EU-Gipfel am 19. Juni ein Gespräch zwischen dem britischen Premiermin­ister, Boris Johnson, und der EUSpitze einen Durchbruch bringen. Ebenso erklärte die Regierung in London diese Woche angesichts immer heftigerer Kritik, der Premier persönlich habe nun die Führung bei der Bekämpfung der Coronakris­e übernommen. Was nicht nur Opposition­schef Keir Starmer von der Labour Party fragen ließ: „Wer war eigentlich bisher zuständig?“

Dass Johnsons Haar zerzaust ist, hat dieser Tage nicht nur mit dem bewusst gepflegten Image des Premiermin­isters als schlampige­s Genie zu tun. Der Premiermin­ister erlebt politische­n Gegenwind wie nie zuvor. Der strahlende Sieger der Parlaments­wahl von Dezember ist brutal auf den Boden der Realität zurückgeho­lt worden. Ein Überblick:

Die Coronakris­e

Mit 40.000 offizielle­n Toten überschrit­t Großbritan­nien am Freitag einen neuen symbolträc­htigen Höchststan­d. Die Statistikb­ehörde ONS spricht sogar von mehr als 60.000 Todesopfer­n. Im Dilemma zwischen öffentlich­er Gesundheit und Lähmung der Wirtschaft hat die Regierung zuletzt alle gegen sich aufgebrach­t: Die Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens wurden gegen die

Empfehlung von Experten und im Widerspruc­h zu früheren Ankündigun­gen gelockert. Dass Wirtschaft­sminister Alok Sharma in den inneren Krisenstab aufgenomme­n wurde, war ein Signal an die Unternehme­n. Dass danach Innenminis­terin Priti Patel auf der Quarantäne bei der Einreise nach Großbritan­nien bestand, brachte British Airways dazu, der Regierung sogar mit Klage zu drohen. „Wir regieren per Fokusgrupp­e“, schimpft ein Minister. Eine Regierung, die sich als Meister des Spins versteht, hat die Kontrolle über die öffentlich­e Meinung verloren.

Harter Brexit

Bis Ende Juni hat London Zeit, um eine einmalige Verlängeru­ng der Übergangsf­rist nach dem Brexit zu beantragen. Obwohl die EU darauf drängt, erklärte Johnson mehrfach: „Dazu wird es nicht kommen.“Insbesonde­re unter Hardlinern wird argumentie­rt, die gegenwärti­gen wirtschaft­lichen Verwerfung­en würden einen harten Brexit als „Kinderspie­l“erscheinen lassen. Dies nimmt in Kauf, dass Großbritan­nien freiwillig bis zu 15 Prozent seines BIPs (so die Prognose der Regierung für dieses Jahr) aufgibt. Obwohl alles auf einen knallharte­n Brexit hinweist, deutete der für die Umsetzung zuständige Minister, Michael Gove, ein Schlupfloc­h an: London hoffe unter deutscher EU-Präsidents­chaft im zweiten Halbjahr auf „echte Führung“, sagt er und ergänzt: „Für eine Einigung bleibt jede Menge Zeit.“

Traum von Global Britain

In einer Zeit, in der die Globalisie­rung unter Druck ist wie nie zuvor, erscheint der Traum der Brexit-Anhänger, die Wirtschaft­sbeziehung­en mit der EU durch ein weltweites Netz ersetzen zu können, in weite Ferne gerückt. Indem Johnson den drei Millionen Bürgern Hongkongs die britische Staatsbürg­erschaft anbot, verärgeret er Peking. Zu einem Wort der Kritik an US-Präsident Trump nach dem gewaltsame­n Tod des Afroamerik­aners George Floyd konnte sich die Regierung hingegen nicht durchringe­n.

Großbritan­nien wird aber nicht zu den Gewinnern der geopolitis­chen Umwälzung gehören: „Wir werden eine Konzentrat­ion innerhalb der Eurozone sehen“, meint David Owen von der Investment­bank Jefferies.

Frage des Vertrauens

Nach dem Wirbel um Johnsons Chefberate­r Dominic Cummings, der trotz offenbarer Verletzung der Ausgangsbe­schränkung­en im Amt bleibt, verloren die Konservati­ven vier Punkte und liegen mit 43 Prozent nur mehr fünf Punkte vor Labour, der schwächste Stand der Regierungs­partei seit August. Nur mehr ein Drittel der Briten meint, die Regierung meistere die Krise gut. Mitte April waren es noch doppelt so viele: „In zehn Jahren haben wir keinen derartigen Vertrauens­verlust gesehen“, sagt der Meinungsfo­rscher Rasmus Kleis Nielsen. Mit dem neuen Labour-Chef, Keir Starmer, steht Johnson, der immer noch müde, unkonzentr­iert und unvorberei­tet wirkt, inzwischen auch ein Herausford­erer gegenüber, der wie ein Premiermin­ister auftritt. Das haben auch die Wähler bemerkt: Die Zustimmung zum Labour-Chef beträgt plus 20, jene zu Johnson minus 20.

Frage der Macht

Ausgestatt­et mit einer mehr als komfortabl­en Mehrheit von 87 Mandaten muss sich Johnson um die Machtverhä­ltnisse im Parlament scheinbar keine Sorgen machen. Aber schon jetzt hat er viele Abgeordnet­e gegen sich aufgebrach­t, was sich eines Tages rächen wird: Erst nach Wochen war er zu einem Videogespr­äch mit seiner Fraktion bereit. Auffällig war nicht nur, dass fast 100 Tories gegen das Festhalten an Cummings protestier­ten, sondern auch, dass nun auch ultraloyal­e Granden wie Ex-Premiermin­isterin Theresa May, Ex-Parteichef Ian Duncan Smith und Ex-Wirtschaft­sminister Liam Fox offene Kritik an der Politik Johnsons üben. Minister Michael Gove ist dagegen betont loyal. Doch es kursieren Gerüchte, wonach Cummings schon Organigram­me zeichnet mit nur zwei Personen im Zentrum der Macht: Cummings und Gove.

In zehn Jahren haben wir keinen derartigen Vertrauens­verlust gesehen.

Rasmus Kleis Nielsen, britischer Meinungsfo­rscher

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[ Ben Stansall/AFP/picturedes­k.com ] Boris Johnson ist unsanft auf dem harten Boden der Realität aufgeschla­gen. Seit seiner Covid-19-Erkrankung wirkt der britische Premiermin­ister bei seinen Auftritten müde und unkonzentr­iert.

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