Der perfekte britische Sturm
Großbritanniens Premier gerät wegen seines Corona-Missmanagements massiv in die Kritik. Ein harter Brexit soll ablenken, wird das Land aber noch tiefer in die Krise stürzen.
Wenn gar nichts mehr geht, erklärt man eine Causa in der Politik gern zur Chefsache. Nach dem Scheitern der jüngsten Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU (siehe Seite 2) am Freitag über die Beziehungen nach dem Brexit soll nun zeitnah zum nächsten EU-Gipfel am 19. Juni ein Gespräch zwischen dem britischen Premierminister, Boris Johnson, und der EUSpitze einen Durchbruch bringen. Ebenso erklärte die Regierung in London diese Woche angesichts immer heftigerer Kritik, der Premier persönlich habe nun die Führung bei der Bekämpfung der Coronakrise übernommen. Was nicht nur Oppositionschef Keir Starmer von der Labour Party fragen ließ: „Wer war eigentlich bisher zuständig?“
Dass Johnsons Haar zerzaust ist, hat dieser Tage nicht nur mit dem bewusst gepflegten Image des Premierministers als schlampiges Genie zu tun. Der Premierminister erlebt politischen Gegenwind wie nie zuvor. Der strahlende Sieger der Parlamentswahl von Dezember ist brutal auf den Boden der Realität zurückgeholt worden. Ein Überblick:
Die Coronakrise
Mit 40.000 offiziellen Toten überschritt Großbritannien am Freitag einen neuen symbolträchtigen Höchststand. Die Statistikbehörde ONS spricht sogar von mehr als 60.000 Todesopfern. Im Dilemma zwischen öffentlicher Gesundheit und Lähmung der Wirtschaft hat die Regierung zuletzt alle gegen sich aufgebracht: Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens wurden gegen die
Empfehlung von Experten und im Widerspruch zu früheren Ankündigungen gelockert. Dass Wirtschaftsminister Alok Sharma in den inneren Krisenstab aufgenommen wurde, war ein Signal an die Unternehmen. Dass danach Innenministerin Priti Patel auf der Quarantäne bei der Einreise nach Großbritannien bestand, brachte British Airways dazu, der Regierung sogar mit Klage zu drohen. „Wir regieren per Fokusgruppe“, schimpft ein Minister. Eine Regierung, die sich als Meister des Spins versteht, hat die Kontrolle über die öffentliche Meinung verloren.
Harter Brexit
Bis Ende Juni hat London Zeit, um eine einmalige Verlängerung der Übergangsfrist nach dem Brexit zu beantragen. Obwohl die EU darauf drängt, erklärte Johnson mehrfach: „Dazu wird es nicht kommen.“Insbesondere unter Hardlinern wird argumentiert, die gegenwärtigen wirtschaftlichen Verwerfungen würden einen harten Brexit als „Kinderspiel“erscheinen lassen. Dies nimmt in Kauf, dass Großbritannien freiwillig bis zu 15 Prozent seines BIPs (so die Prognose der Regierung für dieses Jahr) aufgibt. Obwohl alles auf einen knallharten Brexit hinweist, deutete der für die Umsetzung zuständige Minister, Michael Gove, ein Schlupfloch an: London hoffe unter deutscher EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr auf „echte Führung“, sagt er und ergänzt: „Für eine Einigung bleibt jede Menge Zeit.“
Traum von Global Britain
In einer Zeit, in der die Globalisierung unter Druck ist wie nie zuvor, erscheint der Traum der Brexit-Anhänger, die Wirtschaftsbeziehungen mit der EU durch ein weltweites Netz ersetzen zu können, in weite Ferne gerückt. Indem Johnson den drei Millionen Bürgern Hongkongs die britische Staatsbürgerschaft anbot, verärgeret er Peking. Zu einem Wort der Kritik an US-Präsident Trump nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd konnte sich die Regierung hingegen nicht durchringen.
Großbritannien wird aber nicht zu den Gewinnern der geopolitischen Umwälzung gehören: „Wir werden eine Konzentration innerhalb der Eurozone sehen“, meint David Owen von der Investmentbank Jefferies.
Frage des Vertrauens
Nach dem Wirbel um Johnsons Chefberater Dominic Cummings, der trotz offenbarer Verletzung der Ausgangsbeschränkungen im Amt bleibt, verloren die Konservativen vier Punkte und liegen mit 43 Prozent nur mehr fünf Punkte vor Labour, der schwächste Stand der Regierungspartei seit August. Nur mehr ein Drittel der Briten meint, die Regierung meistere die Krise gut. Mitte April waren es noch doppelt so viele: „In zehn Jahren haben wir keinen derartigen Vertrauensverlust gesehen“, sagt der Meinungsforscher Rasmus Kleis Nielsen. Mit dem neuen Labour-Chef, Keir Starmer, steht Johnson, der immer noch müde, unkonzentriert und unvorbereitet wirkt, inzwischen auch ein Herausforderer gegenüber, der wie ein Premierminister auftritt. Das haben auch die Wähler bemerkt: Die Zustimmung zum Labour-Chef beträgt plus 20, jene zu Johnson minus 20.
Frage der Macht
Ausgestattet mit einer mehr als komfortablen Mehrheit von 87 Mandaten muss sich Johnson um die Machtverhältnisse im Parlament scheinbar keine Sorgen machen. Aber schon jetzt hat er viele Abgeordnete gegen sich aufgebracht, was sich eines Tages rächen wird: Erst nach Wochen war er zu einem Videogespräch mit seiner Fraktion bereit. Auffällig war nicht nur, dass fast 100 Tories gegen das Festhalten an Cummings protestierten, sondern auch, dass nun auch ultraloyale Granden wie Ex-Premierministerin Theresa May, Ex-Parteichef Ian Duncan Smith und Ex-Wirtschaftsminister Liam Fox offene Kritik an der Politik Johnsons üben. Minister Michael Gove ist dagegen betont loyal. Doch es kursieren Gerüchte, wonach Cummings schon Organigramme zeichnet mit nur zwei Personen im Zentrum der Macht: Cummings und Gove.
In zehn Jahren haben wir keinen derartigen Vertrauensverlust gesehen.
Rasmus Kleis Nielsen, britischer Meinungsforscher