Leitartikel von Michael Laczynski
Die Abwicklung der EU-Mitgliedschaft durch die britischen Konservativen hat wenig mit Konservatismus zu tun – und viel mit quasireligiösem Eifer.
Der Glaube kann nicht nur Berge versetzen, sondern auch die Welt umsegeln – diese Überzeugung scheint sich jedenfalls im Hauptquartier der Londoner Traditionszeitung „Daily Telegraph“durchgesetzt zu haben. Seit dem BrexitReferendum im Sommer 2016 ruft das konservative Blatt die britische Öffentlichkeit dazu auf, 100 Millionen Pfund zusammenzuklauben, um Königin Elizabeth ein neues Schiff zu spendieren. In Zeiten von Seuche und Rezession müsse die Royal Yacht Britannia umso dringlicher vom Stapel laufen, um die Moral der königlichen Untertanen zu heben und Britanniens Präsenz auf allen Weltmeeren zu zeigen, lautet das jüngste Argument der Befürworter dieser Idee – die man, sofern man über ein ausreichend tolerantes Gemüt verfügt, als frivol bezeichnen könnte. Eine weniger verständnisvolle Person würde angesichts von 40.000 Corona-Toten, grassierender Arbeitslosigkeit und scharlachroten Budgetzahlen vermutlich ein anderes Adjektiv wählen.
In einer längst untergegangenen, weit zurückliegenden Ära – also vor ungefähr fünf Jahren – hat Großbritannien als Heimat des modernen Konservatismus gegolten. Weltoffen, aber um die Bewahrung des Bewährten bemüht; liberal, aber den Traditionen verpflichtet; skeptisch gegenüber Heilsversprechen, aber fähig zu mutigen Reformen; pragmatisch und prinzipientreu zugleich – dieser gute Ruf eilte den seit 2010 regierenden Tories voraus. Und diesen guten Ruf haben die letzten drei Tory-Premierminister, David Cameron, Theresa May und Boris Johnson, gründlich verspielt.
Die Abwicklung der britischen EUMitgliedschaft durch die Konservativen hat mit Konservatismus herzlich wenig zu tun. Am ehesten vergleichen lässt sie sich mit quasireligiösem Fundamentalismus. Angesichts der Art und Weise, wie London mit seinen europäischen Ex-Partnern – und indirekt mit der eigenen Zukunft – umgeht, wähnt man den Tag nicht weit, an dem die Ayatollahs von Westminster die Europäische Union zum „Großen Satan“ernennen und die Trottoirs mit EU-Flaggen bemalen lassen, auf dass Passanten das Symbol des europäischen Einigungsprozesses mit Füßen treten.
Von den Eckpfeilern des britischen Konservatismus sind verkohlte Stümpfe übrig geblieben. Die gesunde Skepsis vor großen Würfen ist einem revolutionären Furor gewichen, der die Zerstörung aller über Jahrzehnte gewachsenen (Wirtschafts-)Beziehungen zum Kontinent gebietet – selbst um den Preis der Integrität des Vereinigten Königreichs. Von Prinzipientreue kann keine Rede sein, wenn London bei den Verhandlungen mit Brüssel vehement darauf besteht, eigene Normen und Standards zu setzen – zugleich aber kein Problem damit hat, diese angeblich sakrosankten Normen und Standards bei den parallel laufenden Gesprächen mit den USA über Bord zu werfen, nur um einen Deal an Land zu ziehen und den Europäern eins auszuwischen.
Anstatt nüchtern die Vor- und Nachteile einer Anbindung an den Binnenmarkt zu debattieren, wird schrill zum Kreuzzug geblasen: Hier das Gute, dort das Böse, dazwischen der Ärmelkanal. Der Hass auf die EU muss schon abgrundtief sein, um eine derartige Deformation der eigenen Werte in Kauf zu nehmen. D ie Hoffnung, dass Corona die britischen Kreuzritter auf den Boden der Realität zurückholt, hat sich leider nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: In Anbetracht der Kompromisslosigkeit bei den Verhandlungen mit der EU keimt der Verdacht, dass die Brexit-Ultras die Ungunst der Stunde nützen und den harten Bruch mit Europa zu Jahresende heraufbeschwören wollen, um die negativen Konsequenzen des Brexit mit den Folgen der Pandemie zu vermischen und so die Kosten ihrer Entscheidung vor den britischen Wählern zu verbergen. Dieser Verdacht mag überzogen sein. Doch er bietet immerhin eine plausible Erklärung für die Nonchalance im Umgang mit dem Wohlstand Großbritanniens. Die zweite mögliche Erklärung wäre jedenfalls noch schlimmer: dass nämlich die Konservativen nicht wissen, was sie tun.
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