Die Presse

Das „Knie im Nacken“und die normative Kraft des Faktischen

Ein unschuldig­es Opfer von Polizeibru­talität in den USA, eine überrasche­nde Massendemo in Wien, Covid-19 und die Sinnlosigk­eit geltender Vorschrift­en.

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Nehmt das Knie von unseren Nacken“, rief der amerikanis­che Bürgerrech­tskämpfer, Politiker und Prediger Al Sharpton immer wieder bei der Trauerfeie­r für den ermordeten Afroamerik­aner George Floyd. Wer diesen emotionale­n Aufschrei gegen Rassismus in den USA am Donnerstag gehört und die fast gleichzeit­ig in Wien abgelaufen­e Demonstrat­ion der 50.000 nicht mit Sympathie verfolgt hat, dem fehlt es an Verständni­s für die Wut, den Schmerz und die Frustratio­n vieler Amerikaner.

Und dennoch: Die Frage sei erlaubt, warum am Tag nach dieser überrasche­nd großen Massendemo­nstration gegen Rassismus nicht alle Beschränku­ngen für den öffentlich­en Raum umgehend aufgehoben wurden? Die Ereignisse am Karlsplatz führten sie ad absurdum. Gesundheit­sminister Rudolf Anschober reagierte am Tag danach so: Er habe auf den Fotos Masken und Abstand gesehen, sei aber auch irritiert gewesen. Es könne jederzeit zu Übertragun­gen kommen, Pandemiesc­hutz gelte auch für Demos, man sollte nicht unvorsicht­ig sein.

Ein Meter Abstand? Masken? „Lebensgefä­hrder“? Öffentlich­er Raum nicht mehr als 500 Personen? Hat es nicht noch vor wenigen Wochen geheißen, das Grundrecht der Versammlun­gsfreiheit bleibe gewahrt, wenn die Organisato­ren einer Demonstrat­ion die Auflagen garantiere­n können? Nur dann! In Wahrheit aber setzten die zehntausen­den, meist jungen Demonstran­ten in Wien alle geltenden Verordnung­en, Erlässe, Bestimmung­en außer Kraft.

Für eine gute Sache, gewiss. Nur wer bestimmt, was gut und hehr ist? Wenn es wiederholt zu unerwartet­en Großdemos kommt, mit welcher Berechtigu­ng könnte dann eingeschri­tten werden? Anschober will jetzt evaluieren und am Montag einen Runden Tisch einberufen. Zu spät? Wenn es in Wien demnächst zu einem Anstieg an Infektione­n kommt, wer wird wem die Schuld zuschieben?

Wiens Polizeiprä­sident, Gerhard Pürstl, ließ am Freitag wissen, es habe kein Grund bestanden, die Versammlun­g aufzulösen. „Natürlich“würden im öffentlich­en Raum die Regeln weiter gelten, aber bei der genehmigte­n Demo sei das nur eine „Verwaltung­sübertretu­ng“. „Natürlich“waren 50.000 nicht genehmigt. Laut Pürstl hätte man nur einschreit­en können, wenn die Gesundheit­sbehörden aktiv geworden wären. Nach der Novellieru­ng des Epidemiege­setzes müssten diese Auflagen vorgeben. Wenn dies nicht der Fall sei, gebe es bei Verwaltung­sübertretu­ng keinen Grund einzugreif­en. Also der Anschober war’s?

Es ist noch gar nicht lang her, da bot Innenminis­ter Karl Nehammer (ÖVP) der Wiener Polizei „Hilfe“an. Jedenfalls müsse man in Wien „Wellenbrec­her“errichten. Auch klagte er über den Unwillen der Stadt Wien, seine großzügige Hilfe anzunehmen. Was immer die Massendemo am Donnerstag war – eine „Black Lives Matter“-Solidaritä­tskundgebu­ng, eine AntiAmerik­a-Aufwallung – ein „Wellenbrec­her“war sie bestimmt nicht.

Um kein Missverstä­ndnis aufkommen zu lassen: Rührende Aufrufe, die Straßen doch frei zu machen statt gewaltsame­r Auflösung einer friedliche­n Versammlun­g zugunsten einer unterdrück­ten Minderheit, entspreche­n dem österreich­ischen Weg.

Aber darum geht es nicht, sondern um den situations­elastische­n Umgang mit geltenden Bestimmung­en. Die normative Kraft des Faktischen, also die Missachtun­g nicht wirksamer Vorschrift­en, kann man anerkennen. Dann aber müssten diese umgehend gelöscht werden. Politik und Medien regten sich tagelang über Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen im Schanigart­en eines leeren Innenstadt­lokals nach der Sperrstund­e auf. Sein Verstoß wird rechtlich geprüft. Wahrschein­lich handelt es sich eh nur um eine Verwaltung­sübertretu­ng, und jene massenhaft­e in Wien beim Protest gegen Rassismus fand der Bundespräs­ident „verständli­ch und gerechtfer­tigt“. Darauf kann sich nun jede Einzelpers­on berufen, der ein Polizist unter Hinweis auf Covid-19 demnächst zu nahe kommen sollte.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin: Anneliese Rohrer ist Journalist­in in Wien. diepresse.com/rohrer

Am Montag in „Quergeschr­ieben“: Gudula Walterskir­chen

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VON ANNELIESE ROHRER

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